Ob ich wohl in der Nacht umgewechselt worden bin? Laß mal sehen: war ich dieselbe, als ich heute früh aufstand? Es kommt mir fast vor, als hätte ich wie eine Veränderung in mir gefühlt. Aber wenn ich nicht dieselbe bin, dann ist die Frage: wer in aller Welt bin ich? Ja, das ist das Räthsel!« So ging sie in Gedanken alle Kinder ihres Alters durch, die sie kannte, um zu sehen, ob sie in eins davon verwandelt wäre.

»Ich bin sicherlich nicht Ida,« sagte sie, »denn die trägt lange Locken, und mein Haar ist gar nicht lockig; und bestimmt kann ich nicht Clara sein, denn ich weiß eine ganze Menge, und sie, oh! sie weiß so sehr wenig! Außerdem, sie ist sie selbst, und ich bin ich, und, o wie confus es Alles ist! Ich will versuchen, ob ich noch Alles weiß, was ich sonst wußte. Laß sehen: vier mal fünf ist zwölf, und vier mal sechs ist dreizehn, und vier mal sieben ist – o weh! auf die Art komme ich nie bis zwanzig! Aber, das Einmaleins hat nicht so viel zu sagen; ich will Geographie nehmen. London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist die Hauptstadt von Rom, und Rom – nein, ich wette, das ist Alles falsch! Ich muß in Clara verwandelt sein! Ich will doch einmal sehen, ob ich sagen kann: ›Bei einem Wirthe –‹« und sie faltete die Hände, als ob sie ihrer Lehrerin hersagte, und fing an, aber ihre Stimme klang rauh und ungewohnt, und die Worte kamen nicht wie sonst: –

 

»Bei einem Wirthe, wunderwild,

Da war ich jüngst zu Gaste,

Ein Bienennest das war sein Schild

In einer braunen Tatze.

 

Es war der grimme Zottelbär,

Bei dem ich eingekehret;

Mit süßem Honigseim hat er

Sich selber wohl genähret!«

 

»Das kommt mir gar nicht richtig vor,« sagte die arme Alice, und Thränen kamen ihr in die Augen, als sie weiter sprach: »Ich muß doch Clara sein, und ich werde in dem alten kleinen Hause wohnen müssen, und beinah keine Spielsachen zum Spielen haben, und ach! so viel zu lernen. Nein, das habe ich mir vorgenommen: wenn ich Clara bin, will ich hier unten bleiben! Es soll ihnen nichts helfen, wenn sie die Köpfe zusammenstecken und herunter rufen: ›Komm wieder herauf, Herzchen!‹ Ich will nur hinauf sehen und sprechen: wer bin ich denn? Sagt mir das erst, und dann, wenn ich die Person gern bin, will ich kommen; wo nicht, so will ich hier unten bleiben, bis ich jemand Anderes bin. – Aber o weh!« schluchzte Alice plötzlich auf, »ich wünschte, sie sähen herunter! Es ist mir so langweilig, hier ganz allein zu sein!«

Als sie so sprach, sah sie auf ihre Hände hinab und bemerkte mit Erstaunen, daß sie beim Reden einen von den weißen Glacee-Handschuhen des Kaninchens angezogen hatte. »Wie habe ich das nur angefangen?« dachte sie. »Ich muß wieder klein geworden sein.« Sie stand auf, ging nach dem Tische, um sich daran zu messen, und fand, daß sie jetzt ungefähr zwei Fuß hoch sei, dabei schrumpfte sie noch zusehends ein: sie merkte bald, daß die Ursache davon der Fächer war, den sie hielt; sie warf ihn schnell hin, noch zur rechten Zeit, sich vor gänzlichem Verschwinden zu retten.

»Das war glücklich davon gekommen!« sagte Alice sehr erschrocken über die plötzliche Veränderung, aber froh, daß sie noch existirte; »und nun in den Garten!« und sie lief eilig nach der kleinen Thür: aber ach! die kleine Thür war wieder verschlossen und das goldene Schlüsselchen lag auf dem Glastische wie vorher. »Und es ist schlimmer als je,« dachte das arme Kind, »denn so klein bin ich noch nie gewesen, nein, nie! Und ich sage, es ist zu schlecht, ist es!«

Wie sie diese Worte sprach, glitt sie aus, und den nächsten Augenblick, platsch! fiel sie bis an's Kinn in Salzwasser. Ihr erster Gedanke war, sie sei in die See gefallen, »und in dem Fall kann ich mit der Eisenbahn zurückreisen,« sprach sie bei sich (Alice war einmal in ihrem Leben an der See gewesen und war zu dem allgemeinen Schluß gelangt, daß wo man auch an's Seeufer kommt, man eine Anzahl Bademaschinen im Wasser findet, Kinder, die den Sand mit hölzernen Spaten aufgraben, dann eine Reihe Wohnhäuser und dahinter eine Eisenbahn-Station); doch merkte sie bald, daß sie sich in dem Thränenpfuhl befand, den sie geweint hatte, als sie neun Fuß hoch war.

»Ich wünschte, ich hätte nicht so sehr geweint!« sagte Alice, als sie umherschwamm und sich herauszuhelfen suchte; »jetzt werde ich wohl dafür bestraft werden und in meinen eigenen Thränen ertrinken! Das wird sonderbar sein, das! Aber Alles ist heut so sonderbar.«

In dem Augenblick hörte sie nicht weit davon etwas in dem Pfuhle plätschern, und sie schwamm danach, zu sehen was es sei: erst glaubte sie, es müsse ein Wallroß oder ein Nilpferd sein, dann aber besann sie sich, wie klein sie jetzt war, und merkte bald, daß es nur eine Maus sei, die wie sie hineingefallen war.

»Würde es wohl etwas nützen,« dachte Alice, »diese Maus anzureden? Alles ist so wunderlich hier unten, daß ich glauben möchte, sie kann sprechen; auf jeden Fall habe ich das Fragen umsonst.« Demnach fing sie an: »O Maus, weißt du, wie man aus diesem Pfuhle gelangt, ich bin von dem Herumschwimmen ganz müde, o Maus!« (Alice dachte, so würde eine Maus richtig angeredet; sie hatte es zwar noch nie gethan, aber sie erinnerte sich ganz gut, in ihres Bruders lateinischer Grammatik gelesen zu haben »Eine Maus – einer Maus – einer Maus – eine Maus –o Maus!«)

Die Maus sah sie etwas neugierig an und schien ihr mit dem einen Auge zu blinzeln; aber sie sagte nichts.

»Vielleicht versteht sie nicht Englisch,« dachte Alice, »es ist vielleicht eine französische Maus, die mit Wilhelm dem Eroberer herüber gekommen ist« (denn, trotz ihrer Geschichtskenntniß hatte Alice keinen ganz klaren Begriff, wie lange irgend ein Ereigniß her sei): Sie fing also wieder an: »Où est ma chatte?« was der erste Satz in ihrem französischen Conversationsbuche war. Die Maus sprang hoch auf aus dem Wasser, und schien vor Angst am ganzen Leibe zu beben. »O, ich bitte um Verzeihung!« rief Alice schnell, erschrocken, daß sie das arme Thier verletzt habe. »Ich hatte ganz vergessen, daß Sie Katzen nicht mögen.«

»Katzen nicht mögen!« schrie die Maus mit kreischender, wüthender Stimme. »Würdest du Katzen mögen, wenn du in meiner Stelle wärest?«

»Nein, wohl kaum,« sagte Alice in zuredendem Tone: »sei nicht mehr böse darüber. Und doch möchte ich dir unsere Katze Dinah zeigen können. Ich glaube, du würdest Geschmack für Katzen bekommen, wenn du sie nur sehen könntest. Sie ist ein so liebes ruhiges Thier,« sprach Alice fort, halb zu sich selbst, wie sie gemüthlich im Pfuhle daherschwamm; »sie sitzt und spinnt so nett beim Feuer, leckt sich die Pfoten und wäscht sich das Schnäuzchen – und sie ist solch famoser Mäusefänger – oh, ich bitte um Verzeihung!« sagte Alice wieder, denn diesmal sträubte sich das ganze Fell der armen Maus, und Alice dachte, sie müßte sicherlich sehr beleidigt sein. »Wir wollen nicht mehr davon reden, wenn du es nicht gern hast.«

»Wir, wirklich!« entgegnete die Maus, die bis zur Schwanzspitze zitterte. »Als ob ich je über solchen Gegenstand spräche! Unsere Familie hat von jeher Katzen verabscheut: häßliche, niedrige, gemeine Dinger! Laß mich ihren Namen nicht wieder hören!«

»Nein, gewiß nicht!« sagte Alice, eifrig bemüht, einen andern Gegenstand der Unterhaltung zu suchen. »Magst du – magst du gern Hunde?« Die Maus antwortete nicht, daher fuhr Alice eifrig fort: »Es wohnt ein so reizender kleiner Hund nicht weit von unserm Hause. Den möchte ich dir zeigen können! Ein kleiner klaräugiger Wachtelhund, weißt du, ach, mit solch krausem braunen Fell! Und er apportirt Alles, was man ihm hinwirft, und er kann aufrecht stehen und um sein Essen betteln, und so viel Kunststücke – ich kann mich kaum auf die Hälfte besinnen – und er gehört einem Amtmann, weißt du, und er sagt, er ist so nützlich, er ist ihm hundert Pfund werth! Er sagt, er vertilgt alle Ratten und – oh wie dumm!« sagte Alice in reumüthigem Tone. »Ich fürchte, ich habe ihr wieder weh gethan!« Denn die Maus schwamm so schnell sie konnte von ihr fort und brachte den Pfuhl dadurch in förmliche Bewegung.

Sie rief ihr daher zärtlich nach: »Liebes Mäuschen! Komm wieder zurück, und wir wollen weder von Katzen noch von Hunden reden, wenn du sie nicht gern hast!« Als die Maus das hörte, wandte sie sich um und schwamm langsam zu ihr zurück; ihr Gesicht war ganz blaß (vor Aerger, dachte Alice), und sie sagte mit leiser, zitternder Stimme: »Komm mit mir an's Ufer, da will ich dir meine Geschichte erzählen; dann wirst du begreifen, warum ich Katzen und Hunde nicht leiden kann.«

Es war hohe Zeit sich fortzumachen; denn der Pfuhl begann von allerlei Vögeln und Getier zu wimmeln, die hinein gefallen waren: da war eine Ente und ein Dodo, ein rother Papagei und ein junger Adler, und mehrere andere merkwürdige Geschöpfe. Alice führte sie an, und die ganze Gesellschaft schwamm an's Ufer.

 

Drittes Kapitel.

 

Caucus-Rennen und was daraus wird.

Es war in der That eine wunderliche Gesellschaft, die sich am Strande versammelte – die Vögel mit triefenden Federn, die übrigen Thiere mit fest anliegendem Fell, Alle durch und durch naß, verstimmt und unbehaglich. –

Die erste Frage war, wie sie sich trocknen könnten: es wurde eine Berathung darüber gehalten, und nach wenigen Minuten kam es Alice ganz natürlich vor, vertraulich mit ihnen zu schwatzen, als ob sie sie ihr ganzes Leben gekannt hätte. Sie hatte sogar eine lange Auseinandersetzung mit dem Papagei, der zuletzt brummig wurde und nur noch sagte: »ich bin älter als du und muß es besser wissen;« dies wollte Alice nicht zugeben und fragte nach seinem Alter, und da der Papagei es durchaus nicht sagen wollte, so blieb die Sache unentschieden.

Endlich rief die Maus, welche eine Person von Gewicht unter ihnen zu sein schien: »Setzt euch, ihr Alle, und hört mir zu! ich will euch bald genug trocken machen!« Alle setzten sich sogleich in einen großen Kreis nieder, die Maus in der Mitte. Alice hatte die Augen erwartungsvoll auf sie gerichtet, denn sie war überzeugt, sie werde sich entsetzlich erkälten, wenn sie nicht sehr bald trocken würde.

»Hm!« sagte die Maus mit wichtiger Miene, »seid ihr Alle so weit? Es ist das Trockenste, worauf ich mich besinnen kann. Alle still, wenn ich bitten darf! – Wilhelm der Eroberer, dessen Ansprüche vom Papste begünstigt wurden, fand bald Anhang unter den Engländern, die einen Anführer brauchten, und die in jener Zeit sehr an Usurpation und Eroberungen gewöhnt waren. Edwin und Morcar, Grafen von Mercia und Northumbria –«

»Ooooh!« gähnte der Papagei und schüttelte sich.

»Bitte um Verzeihung!« sprach die Maus mit gerunzelter Stirne, aber sehr höflich; »bemerkten Sie etwas?«

»Ich nicht!« erwiederte schnell der Papagei.

»Es kam mir so vor,« sagte die Maus. – »Ich fahre fort: Edwin und Morcar, Grafen von Mercia und Northumbria, erklärten sich für ihn; und selbst Stigand, der patriotische Erzbischof von Canterbury fand es rathsam –«

»Fand was?« unterbrach die Ente.

»Fand es,« antwortete die Maus ziemlich aufgebracht: »du wirst doch wohl wissen, was es bedeutet.«

»Ich weiß sehr wohl, was es bedeutet, wenn ich etwas finde,« sagte die Ente: »es ist gewöhnlich ein Frosch oder ein Wurm. Die Frage ist, was fand der Erzbischof?«

Die Maus beachtete die Frage nicht, sondern fuhr hastig fort: – »fand es rathsam, von Edgar Atheling begleitet, Wilhelm entgegen zu gehen und ihm die Krone anzubieten.