»Ich habe nicht geschlafen,« sagte es mit heiserer, schwacher Stimme, »ich habe jedes Wort gehört, das ihr Jungen gesagt habt.«
»Erzähle uns eine Geschichte!« sagte der Faselhase.
»Ach ja, sei so gut!« bat Alice.
»Und mach schnell,« fügte der Hutmacher hinzu, »sonst schläfst du ein, ehe sie zu Ende ist.«
»Es waren einmal drei kleine Schwestern,« fing das Murmelthier eilig an, »die hießen Else, Lacie und Tillie, und sie lebten tief unten in einem Brunnen –«
»Wovon lebten sie?« fragte Alice, die sich immer für Essen und Trinken sehr interessierte.
»Sie lebten von Syrup,« versetzte das Murmelthier, nachdem es sich eine Minute besonnen hatte.
»Das konnten sie ja aber nicht,« bemerkte Alice schüchtern, »da wären sie ja krank geworden.«
»Das wurden sie auch,« sagte das Murmelthier, »sehr krank.«
Alice versuchte es sich vorzustellen, wie eine so außergewöhnliche Art zu leben wohl sein möchte; aber es kam ihr zu kurios vor, sie mußte wieder fragen: »Aber warum lebten sie unten in dem Brunnen?«
»Willst du nicht ein wenig mehr Thee?« sagte der Faselhase sehr ernsthaft zu Alice.
»Ein wenig mehr? ich habe noch keinen gehabt,« antwortete Alice etwas empfindlich, »also kann ich nicht noch mehr trinken.«
»Du meinst, du kannst nicht weniger trinken,« sagte der Hutmacher: »es ist sehr leicht, mehr als keinen zu trinken.«
»Niemand hat dich um deine Meinung gefragt,« sagte Alice.
»Wer macht denn nun persönliche Bemerkungen?« rief der Hutmacher triumphirend.
Alice wußte nicht recht, was sie darauf antworten sollte; sie nahm sich daher etwas Thee und Butterbrot, und dann wandte sie sich an das Murmelthier und wiederholte ihre Frage: »Warum lebten sie in einem Brunnen?«
Das Murmelthier besann sich einen Augenblick und sagte dann: »Es war ein Syrup-Brunnen.«
»Den giebt es nicht!« fing Alice sehr ärgerlich an; aber der Hutmacher und Faselhase machten beide: »Sch, sch!« und das Murmelthier bemerkte brummend: »Wenn du nicht höflich sein kannst, kannst du die Geschichte selber auserzählen.«
»Nein, bitte erzähle weiter!« sagte Alice ganz bescheiden; »ich will dich nicht wieder unterbrechen. Es wird wohl einen geben.«
»Einen, wirklich!« sagte das Murmelthier entrüstet. Doch ließ es sich zum Weitererzählen bewegen. »Also die drei kleinen Schwestern – sie lernten zeichnen, müßt ihr wissen –«
»Was zeichneten sie?« sagte Alice, ihr Versprechen ganz vergessend.
»Syrup,« sagte das Murmelthier, diesmal ganz ohne zu überlegen.
»Ich brauche eine reine Tasse,« unterbrach der Hutmacher, »wir wollen Alle einen Platz rücken.«
Er rückte, wie er das sagte, und das Murmelthier folgte ihm; der Faselhase rückte an den Platz des Murmelthiers, und Alice nahm, obgleich etwas ungern, den Platz des Faselhasen ein. Der Hutmacher war der Einzige, der Vortheil von diesem Wechsel hatte, und Alice hatte es viel schlimmer als zuvor, da der Faselhase eben den Milchtopf über seinen Teller umgestoßen hatte.
Alice wollte das Murmelthier nicht wieder beleidigen und fing daher sehr vorsichtig an: »Aber ich verstehe nicht. Wie konnten sie den Syrup zeichnen?«
»Als ob nicht aller Syrup gezeichnet wäre, den man vom Kaufmann holt,« sagte der Hutmacher; »hast du nicht immer darauf gesehen: feinste Qualität, allerfeinste Qualität, superfeine Qualität – oh, du kleiner Dummkopf?«
»Wie gesagt, fuhr das Murmelthier fort, lernten sie zeichnen;« hier gähnte es und rieb sich die Augen, denn es fing an, sehr schläfrig zu werden; »und sie zeichneten Allerlei – Alles was mit M. anfängt –«
»Warum mit M?« fragte Alice.
»Warum nicht?« sagte der Faselhase.
Alice war still.
Das Murmelthier hatte mittlerweile die Augen zugemacht, und war halb eingeschlafen; da aber der Hutmacher es zwickte, wachte es mit einem leisen Schrei auf und sprach weiter: – »was mit M anfängt, wie Mausefallen, den Mond, Mangel, und manches Mal – ihr wißt, man sagt: ich habe das manches liebe Mal gethan – hast du je manches liebe Mal gezeichnet gesehen?«
»Wirklich, da du mich selbst fragst,« sagte Alice ganz verwirrt, »ich denke kaum –«
»Dann solltest du auch nicht reden,« sagte der Hutmacher.
Dies war nachgerade zu grob für Alice: sie stand ganz beleidigt auf und ging fort; das Murmelthier schlief augenblicklich wieder ein, und die beiden Andern beachteten ihr Fortgehen nicht, obgleich sie sich ein paar Mal umsah, halb in der Hoffnung, daß sie sie zurückrufen würden. Als sie sie zuletzt sah, versuchten sie das Murmelthier in die Theekanne zu stecken.
»Auf keinen Fall will ich da je wieder hingehen!« sagte Alice, während sie sich einen Weg durch den Wald suchte. »Es ist die dümmste Theegesellschaft, in der ich in meinem ganzen Leben war!«
Gerade wie sie so sprach, bemerkte sie, daß einer der Bäume eine kleine Thür hatte. »Das ist höchst komisch!« dachte sie. »Aber Alles ist heute komisch! Ich will lieber gleich hinein gehen.«
Wie gesagt, so gethan: und sie befand sich wieder in dem langen Corridor, und dicht bei dem kleinen Glastische. »Diesmal will ich es gescheidter anfangen,« sagte sie zu sich selbst, nahm das goldne Schlüsselchen und schloß die Thür auf, die in den Garten führte. Sie machte sich daran, an dem Pilz zu knabbern (sie hatte ein Stückchen in der Tasche behalten), bis sie ungefähr einen Fuß hoch war, dann ging sie den kleinen Gang hinunter; und dann – war sie endlich in dem schönen Garten, unter den prunkenden Blumenbeeten und kühlen Springbrunnen.
Achtes Kapitel.
Das Croquetfeld der Königin.
Ein großer hochstämmiger Rosenstrauch stand nahe bei'm Eingang; die Rosen, die darauf wuchsen, waren weiß, aber drei Gärtner waren damit beschäftigt, sie roth zu malen. Alice kam dies wunderbar vor, und da sie näher hinzutrat, um ihnen zuzusehen, hörte sie einen von ihnen sagen: »nimm dich in Acht, Fünf! Bespritze mich nicht so mit Farbe!«
»Ich konnte nicht dafür,« sagte Fünf in verdrießlichem Tone; »Sieben hat mich an den Ellbogen gestoßen.«
Worauf Sieben aufsah und sagte: »Recht so Fünf! Schiebe immer die Schuld auf andre Leute!«
»Du sei nur ganz still!« sagte Fünf. »Gestern erst hörte ich die Königin sagen, du verdientest geköpft zu werden!«
»Wofür?« fragte der, welcher zuerst gesprochen hatte.
»Das geht dich nichts an, Zwei!« sagte Sieben.
»Ja, es geht ihn an!« sagte Fünf, »und ich werde es ihm sagen – dafür, daß er dem Koch Tulpenzwiebeln statt Küchenzwiebeln gebracht hat.«
Sieben warf seinen Pinsel hin und hatte eben angefangen: »Ist je eine ungerechtere Anschuldigung –« als sein Auge zufällig auf Alice fiel, die ihnen zuhörte; er hielt plötzlich inne, die andern sahen sich auch um, und sie verbeugten sich Alle tief.
»Wollen Sie so gut sein, mir zu sagen,« sprach Alice etwas furchtsam, »warum Sie diese Rosen malen?«
Fünf und Sieben antworteten nichts, sahen aber Zwei an. Zwei fing mit leiser Stimme an: »Die Wahrheit zu gestehen, Fräulein, dies hätte hier ein rother Rosenstrauch sein sollen, und wir haben aus Versehen einen weißen gepflanzt, und wenn die Königin es gewahr würde, würden wir Alle geköpft
werden, müssen Sie wissen. So, sehen Sie Fräulein, versuchen wir, so gut es geht, ehe sie kommt –« In dem Augenblick rief Fünf, der ängstlich tiefer in den Garten hinein gesehen hatte: »Die Königin! die Königin!« und die drei Gärtner warfen sich sogleich flach auf's Gesicht. Es entstand ein Geräusch von vielen Schritten, und Alice blickte neugierig hin, die Königin zu sehen.
Zuerst kamen zehn Soldaten, mit Keulen bewaffnet, sie hatten alle dieselbe Gestalt wie die Gärtner, rechteckig und flach, und an den vier Ecken die Hände und Füße; danach kamen zehn Herren vom Hofe, sie waren über und über mit Diamanten bedeckt und gingen paarweise, wie die Soldaten. Nach diesen kamen die königlichen Kinder, es waren ihrer zehn, und die lieben Kleinen kamen lustig gesprungen Hand in Hand paarweise, sie waren ganz mit Herzen geschmückt. Darauf kamen die Gäste, meist Könige und Königinnen, und unter ihnen erkannte Alice das weiße Kaninchen; es unterhielt sich in etwas eiliger und aufgeregter Weise, lächelte bei Allem, was gesagt wurde und ging vorbei, ohne sie zu bemerken. Darauf folgte der Coeur-Bube, der die königliche Krone auf einem rothen Sammetkissen trug, und zuletzt in diesem großartigen Zuge kamen der Herzenskönig und die Herzenskönigin.
Alice wußte nicht recht, ob sie sich nicht flach auf's Gesicht legen müsse, wie die drei Gärtner; aber sie konnte sich nicht erinnern, je von einer solchen Sitte bei Festzügen gehört zu haben. »Und außerdem, wozu gäbe es überhaupt Aufzüge,« dachte sie, »wenn alle Leute flach auf dem Gesichte liegen müßten, so daß sie sie nicht sehen könnten?« Sie blieb also stehen, wo sie war, und wartete.
Als der Zug bei ihr angekommen war, blieben Alle stehen und sahen sie an, und die Königin fragte strenge: »Wer ist das?« Sie hatte den Coeur-Buben gefragt, der statt aller Antwort nur lächelte und Kratzfüße machte.
»Schafskopf!« sagte die Königin, den Kopf ungeduldig zurückwerfend; und zu Alice gewandt fuhr sie fort: »Wie heißt du, Kind?«
»Mein Name ist Alice, Euer Majestät zu dienen!« sagte Alice sehr höflich; aber sie dachte bei sich: »Ach was, es ist ja nur ein Pack Karten. Ich brauche mich nicht vor ihnen zu fürchten!«
»Und wer sind diese drei?« fuhr die Königin fort, indem sie auf die drei Gärtner zeigte, die um den Rosenstrauch lagen; denn natürlich, da sie auf dem Gesichte lagen und das Muster auf ihrer Rückseite dasselbe war wie für das ganze Pack, so konnte sie nicht wissen, ob es Gärtner oder Soldaten oder Herren vom Hofe oder drei von ihren eigenen Kindern waren.
»Woher soll ich das wissen?« sagte Alice, indem sie sich selbst über ihren Muth wunderte. »Es ist nicht meines Amtes.«
Die Königin wurde purpurroth vor Wuth, und nachdem sie sie einen Augenblick wie ein wildes Thier angestarrt hatte, fing sie an zu brüllen: »Ihren Kopf ab! ihren Kopf –«
»Unsinn!« sagte Alice sehr laut und bestimmt, und die Königin war still.
Der König legte seine Hand auf ihren Arm und sagte milde: »Bedenke, meine Liebe, es ist nur ein Kind!«
Die Königin wandte sich ärgerlich von ihm ab und sagte zu dem Buben: »Dreh' sie um!«
Der Bube that es, sehr sorgfältig, mit einem Fuße.
»Steht auf!« schrie die Königin mit durchdringender Stimme, und die drei Gärtner sprangen sogleich auf und fingen an sich zu verneigen vor dem König, der Königin, den königlichen Kindern, und Jedermann.
»Laßt das sein!« eiferte die Königin. »Ihr macht mich schwindlig.« Und dann, sich nach dem Rosenstrauch umdrehend, fuhr sie fort: »Was habt ihr hier gethan?«
»Euer Majestät zu dienen,« sagte Zwei in sehr demüthigem Tone und sich auf ein Knie niederlassend, »wir haben versucht –«
»Ich sehe!« sagte die Königin, die unterdessen die Rosen untersucht hatte. »Ihre Köpfe ab!« und der Zug bewegte sich fort, während drei von den Soldaten zurückblieben um die unglücklichen Gärtner zu enthaupten, welche zu Alice liefen und sie um Schutz baten.
»Ihr sollt nicht getödtet werden!« sagte Alice, und damit steckte sie sie in einen großen Blumentopf, der in der Nähe stand. Die drei Soldaten gingen ein Weilchen hier- und dorthin, um sie zu suchen, und dann schlossen sie sich ruhig wieder den Andern an.
»Sind ihre Köpfe gefallen?« schrie die Königin sie an.
»Ihre Köpfe sind fort, zu Euer Majestät Befehl!« schrien die Soldaten als Antwort.
»Das ist gut!« schrie die Königin. »Kannst du Croquet spielen?«
Die Soldaten waren still und sahen Alice an, da die Frage augenscheinlich an sie gerichtet war.
»Ja!« schrie Alice.
»Dann komm mit!« brüllte die Königin, und Alice schloß sich dem Zuge an, sehr neugierig, was nun geschehen werde.
»Es ist – es ist ein sehr schöner Tag!« sagte eine schüchterne Stimme neben ihr. Sie ging neben dem weißen Kaninchen, das ihr ängstlich in's Gesicht sah.
»Sehr,« sagte Alice; – »wo ist die Herzogin?«
»Still! still!« sagte das Kaninchen in einem leisen, schnellen Tone. Es sah dabei ängstlich über seine Schulter, stellte sich dann auf die Zehen, hielt den Mund dicht an Alice's Ohr und wisperte: »Sie ist zum Tode verurtheilt.«
»Wofür?« frage diese.
»Sagtest du: wie Schade?« fragte das Kaninchen.
»Nein, das sagte ich nicht,« sagte Alice, »ich finde gar nicht, daß es Schade ist.
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