Anstatt daß er sich bemühete, weiter heraufzukommen, tat er das Gegenteil und sagte entweder mit Fleiß nicht, was er doch wußte, oder legte es auf andre Weise darauf an, täglich eine Stufe herunterzukommen, welches sich der Konrektor und seine Mitschüler nicht erklären konnten und ihm oft ihre Verwunderung darüber bezeugten.

Anton allein wußte die Ursache davon und trug seinen geheimen Kummer mit nach Hause und in die Schule. Jede Stufe, die er auf die Art freiwillig herunterstieg, kostete ihm tausend Tränen, die er heimlich zu Hause vergoß; aber so bitter diese Arznei war, die er sich selbst verschrieb, so tat sie doch ihre Wirkung.

Er hatte es selber so veranstaltet, daß er gerade am letzten Tage der Unterste werden mußte. Allein dies war ihm zu hart. Die Tränen standen ihm in den Augen, und er bat, man möchte ihn nur noch heute an seinem Orte sitzen lassen, morgen wolle er gern den untersten Platz einnehmen.

Jeder hatte Mitleiden mit ihm, und man ließ ihn sitzen. Den andern Tag war der Monat aus, und er kam nicht wieder.

Wie viel ihm diese freiwillige Aufopferung gekostet habe, läßt sich aus dem Eifer und der Mühe schließen, wodurch er sich jeden höhern Platz zu erwerben gesucht hatte.

Oft, wenn der Konrektor in seinem Schlafrocke aus dem Fenster sahe und er vor ihm vorbeiging, dachte er: o könntest du doch dein Herz gegen diesen Mann ausschütten. Aber dazu schien doch die Entfernung zwischen ihm und seinem Lehrer noch viel zu groß zu sein.

Bald darauf wurde er auch, ohngeachtet alles seines Flehens und Bittens, von seinem geliebten Schreibmeister getrennt.

Dieser hatte freilich einige Nachlässigkeit in Antons Schreib- und Rechenbuche passieren lassen, worüber sein Vater aufgebracht war.

Anton nahm mit dem größten Eifer alle Schuld auf sich und versprach und gelobte, was nur in seinen Kräften stand, aber alles half nichts; er mußte seinen alten treuen Lehrer verlassen und zu Ende des Monats anfangen, in der öffentlichen Stadtschule schreiben zu lernen.

Diese beiden Schläge auf einmal waren für Anton zu hart.

Er wollte sich noch an die letzte Stütze halten und sich von seinen ehemaligen Mitschülern jedes aufgegebene Pensum sagen lassen, um es zu Hause zu lernen und auf diese Weise mit ihnen fortzurücken; als aber auch dies nicht gehen wollte, so erlag seine bisherige Tugend und Frömmigkeit, und er ward wirklich eine Zeitlang aus einer Art von Mißmut und Verzweiflung, was man einen bösen Buben nennen kann.

Er zog sich mutwilligerweise in der Schule Schläge zu und hielt sie alsdann mit Trotz und Standhaftigkeit aus, ohne eine Miene zu verziehen, und dies machte ihm dazu ein Vergnügen, das ihm noch lange in der Erinnerung angenehm war.

Er schlug und balgte sich mit Straßenbuben, versäumte die Lehrstunden in der Schule und quälte einen Hund, den seine Eltern hatten, wie und wo er nur konnte.

In der Kirche, wo er sonst ein Muster der Andacht gewesen war, plauderte er mit seinesgleichen den ganzen Gottesdienst über.

Oft fiel es ihm ein, daß er auf einem bösen Wege begriffen sei, er erinnerte sich mit Wehmut an seine vormaligen Bestrebungen, ein frommer Mensch zu werden; allein sooft er im Begriff war umzukehren, schlug eine gewisse Verachtung seiner selbst und ein nagender Mißmut seine besten Vorsätze nieder und machte, daß er sich wieder in allerlei wilden Zerstreuungen zu vergessen suchte.

Der Gedanke, daß ihm seine liebsten Wünsche und Hoffnungen fehlgeschlagen und die angetretene Laufbahn des Ruhms auf immer verschlossen war, nagte ihn unaufhörlich, ohne daß er sich dessen immer deutlich bewußt war, und trieb ihn zu allen Ausschweifungen.

Er ward ein Heuchler gegen Gott, gegen andre und gegen sich selbst.

Sein Morgen- und Abendgebet las er pünktlich wie vormals, aber ohne alle Empfindung.

Wenn er zu dem alten Manne kam, tat er alles, was er sonst mit aufrichtigem Herzen getan hatte, aus Verstellung und heuchelte in frommen Mienen und aufgeschriebnen Worten, worin er fälschlich einen gewissen Durst und Sehnsucht nach Gott vorgab, um sich bei diesem Manne in Achtung zu erhalten.

Ja, zuweilen konnte er heimlich lachen, indes der alte Mann sein Geschriebnes las.

So fing er auch an, seinen Vater zu betrügen. Dieser ließ sich einmal gegen ihn verlauten: damals vor drei Jahren sei er noch ein ganz andrer Knabe gewesen, als er in Pyrmont sich weigerte, eine Notlüge zu tun, indem er den Engländer verleugnen sollte.

Weil sich nun Anton bewußt war, daß gerade dies damals mehr aus einer Art von Affektation als würklichem Abscheu gegen die Lüge geschehen sei, so dachte er bei sich selber: wenn sonst nichts verlangt wird, um mich beliebt zu machen, das soll mir wenig Mühe kosten. Und nun wußte er es in kurzer Zeit durch eine Art von bloßer Heuchelei, die er doch aber vor sich selber als Heuchelei zu verbergen suchte, so weit zu bringen, daß sein Vater über ihn mit dem Herrn von Fleischbein korrespondierte und demselben von Antons Seelenzustande Nachricht gab, um seinen Rat darüber einzuholen.

Indes wie Anton sahe, daß die Sache so ernsthaft wurde, ward er auch ernsthafter dabei und entschloß sich zuweilen, sich nun im Ernst von seinem bösen Leben zu bekehren, weil er die bisherige Heuchelei nicht länger mehr vor sich selbst verdecken konnte.

Allein nun fielen ihm die Jahre ein, die er von der Zeit seiner vormaligen wirklichen Bekehrung an versäumt hatte, und wie weit er nun schon sein könnte, wenn er das nicht getan hätte. Dies machte ihn äußerst mißvergnügt und traurig.

Überdem las er bei dem alten Manne ein Buch, worin der Prozeß der ganzen Heilsordnung durch Buße, Glauben und gottselig Leben mit allen Zeichen und Symptomen ausführlich beschrieben war.

Bei der Buße mußten Tränen, Reue, Traurigkeit und Mißvergnügen sein: dies alles war bei ihm da.

Bei dem Glauben mußte eine ungewohnte Heiterkeit und Zuversicht zu Gott in der Seele sein: dies kam auch.

Und nun mußte sich drittens das gottselige Leben von selber finden: aber dies fand sich nicht so leicht.

Anton glaubte, wenn man einmal fromm und gottselig leben wolle, so müsse man es auch beständig und in jedem Augenblicke, in allen seinen Mienen und Bewegungen, ja sogar in seinen Gedanken sein; auch müsse man keinen Augenblick lang vergessen, daß man fromm sein wolle.

Nun vergaß er es aber natürlicherweise sehr oft: seine Miene blieb nicht ernsthaft, sein Gang nicht ehrbar, und seine Gedanken schweiften in irdischen weltlichen Dingen aus.

Nun, glaubte er, sei alles vorbei; er habe noch so viel wie nichts getan und müsse wieder von vorn anfangen.

So ging es oft verschiedne Male in einer Stunde, und dies war für Anton ein höchst peinlicher und ängstlicher Zustand.

Er überließ sich wieder, aber beständig mit Angst und klopfendem Herzen, seinen vorigen Zerstreuungen.

Dann fing er das Werk seiner Bekehrung einmal von vorn wieder an, und so schwankte er beständig hin und her und fand nirgends Ruhe und Zufriedenheit, indem er sich vergeblich die unschuldigsten Freuden seiner Jugend verbitterte und es doch in dem andern nie weit brachte.

Dies beständige Hin- und Herschwanken ist zugleich ein Bild von dem ganzen Lebenslaufe seines Vaters, dem es im funfzigsten Jahre seines Lebens noch nicht besser ging, und der doch immer noch das Rechte zu finden hoffte, wornach er so lange vergeblich gestrebt hatte.

Mit Anton war es anfänglich ziemlich gut gegangen: allein seitdem er kein Latein mehr lernen sollte, litte seine Frömmigkeit einen großen Stoß; sie war nichts als ein ängstliches, gezwungenes, Wesen, und es wollte nie recht mit ihm fort.

Er las darauf irgendwo, wie unnütz und schädlich das Selbstbessern sei, und daß man sich bloß leidend verhalten und die göttliche Gnade in sich würken lassen müsse: er betete daher oft sehr aufrichtig: Herr, bekehre du mich, so werde ich bekehret! Aber alles war vergeblich.

Sein Vater reiste diesen Sommer wieder nach Pyrmont, und Anton schrieb ihm, wie schlecht es mit dem Selbstbessern vorwärts ginge, und daß er sich wohl darin geirrt habe, weil die göttliche Gnade doch alles tun müsse.

Seine Mutter hielt diesen ganzen Brief für Heuchelei, wie er denn wirklich nicht ganz davon frei sein mochte, und schrieb eigenhändig darunter: Anton führt sich auf wie alle gottlose Buben.

Nun war er sich doch eines wirklichen Kampfes mit sich selbst bewußt, und es mußte also äußerst kränkend für ihn sein, daß er mit allen gottlosen Buben in eine Klasse geworfen wurde.

Dies schlug ihn so sehr nieder, daß er nun wirklich eine Zeitlang wieder ausschweifte und sich mutwillig mit wilden Buben abgab, worin er denn durch das Schelten und sogenannte Predigen seiner Mutter noch immer mehr bestärkt wurde: denn dies schlug ihn immer noch tiefer nieder, so daß er sich oft am Ende selbst für nichts mehr als einen gemeinen Gassenbuben hielt und nun um desto eher wieder Gemeinschaft mit ihnen machte.

Dies dauerte, bis sein Vater von Pyrmont wieder zurückkam. Nun eröffneten sich für Anton auf einmal ganz neue Aussichten.

Schon zu Anfange des Jahres war seine Mutter mit Zwillingen niedergekommen, wovon nur der eine leben blieb, zu welchen ein Hutmacher in Braunschweig, namens Lobenstein, Gevatter geworden war.

Dieser war einer von den Anhängern des Herrn von Fleischbein, wodurch ihn Antons Vater schon seit ein paar Jahren kannte.

Da nun Anton doch einmal bei einem Meister sollte untergebracht werden (denn seine beiden Stiefbrüder hatten nun schon ausgelernt, und jeder war mit seinem Handwerke unzufrieden, wozu er von seinem Vater mit Gewalt gezwungen war), und da der Hutmacher Lobenstein gerade einen Burschen haben wollte, der ihm fürs erste nur zur Hand wäre: welch eine herrliche Türe öffnete sich nun nach seines Vaters Meinung für Anton, daß er ebenso wie seine beiden Stiefbrüder bei einem so frommen Manne, der dazu ein eifriger Anhänger des Herrn von Fleischbein war, schon so früh könne untergebracht und von demselben zur wahren Gottseligkeit und Frömmigkeit angehalten werden.

Dies mochte schon länger im Werk gewesen sein und war vermutlich die Ursach, warum Antons Vater ihn aus der lateinischen Schule genommen hatte.

Nun aber hatte Anton, seitdem er Latein gelernet, sich auch das Studieren fest in den Kopf gesetzt; denn er hatte eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen alles, was studiert hatte und einen schwarzen Rock trug, so daß er diese Leute beinahe für eine Art übermenschlicher Wesen hielt.

Was war natürlicher, als daß er nach dem strebte, was ihm auf der Welt das Wünschenswerteste zu sein schien?

Nun hieß es, der Hutmacher Lobenstein in Braunschweig wolle sich Antons wie ein Freund annehmen, er solle bei ihm wie ein Kind gehalten sein und nur leichte und anständige Arbeiten, als etwa Rechnungen schreiben, Bestellungen ausrichten und dergleichen übernehmen, alsdann solle er auch noch zwei Jahre in die Schule gehen, bis er konfirmiert wäre und sich dann zu etwas entschließen könnte.

Dies klang in Antons Ohren äußerst angenehm, insbesondere der letzte Punkt von der Schule; denn wenn er diesen Zweck nur erst erreicht hätte, glaubte er, würde es ihm nicht fehlen, sich so vorzüglich auszuzeichnen, daß sich ihm zum Studieren von selber schon Mittel und Wege eröffnen müßten.

Er schrieb selber zugleich mit seinem Vater an den Hutmacher Lobenstein, den er schon im voraus innig liebte und sich auf die herrlichen Tage freute, die er bei ihm zubringen würde.

Und welche Reize hatte die Veränderung des Orts für ihn!

Der Aufenthalt in Hannover und der ewige einförmige Anblick eben derselben Straßen und Häuser ward ihm nun unerträglich: neue Türme, Tore, Wälle und Schlösser stiegen beständig in seiner Seele auf, und ein Bild verdrängte das andre.

Er war unruhig und zählte Stunden und Minuten bis zu seiner Abreise.

Der erwünschte Tag war endlich da. Anton nahm von seiner Mutter und von seinen beiden Brüdern Abschied, wovon der ältere, Christian, fünf Jahr und der jüngere, Simon, der nach dem Hutmacher Lobenstein genannt war, kaum ein Jahr alt sein mochte.

Sein Vater reiste mit ihm, und es ging nun halb zu Fuße, halb zu Wagen mit einer wohlfeilen Gelegenheit fort.

Anton genoß jetzt zum ersten Male in seinem Leben das Vergnügen zu wandern, welches ihm in der Zukunft mehr wie zu häufig aufgespart war.

Je mehr sie sich Braunschweig näherten, je mehr war Antons Herz voll Erwartung. Der Andreasturm ragte mit seiner roten Kuppel majestätisch hervor.

Es war gegen Abend. Anton sahe in der Ferne die Schildwache auf dem hohen Walle hin und her gehen.

Tausend Vorstellungen, wie sein künftiger Wohltäter aussehen, wie sein Alter, sein Gang, seine Mienen sein würden, stiegen in ihm auf und verschwanden wieder.

Er setzte endlich von demselben ein so schönes Bild zusammen, daß er ihn schon im voraus liebte.

Überhaupt pflegte Anton in seiner Kindheit durch den Klang der eignen Namen von Personen oder Städten zu sonderbaren Bildern und Vorstellungen von den dadurch bezeichneten Gegenständen veranlaßt zu werden.

Die Höhe oder Tiefe der Vokale in einem solchen Namen trug zur Bestimmung des Bildes das meiste bei.

So klang der Name Hannover beständig prächtig in seinem Ohre, und ehe er es sahe, war es ihm ein Ort mit hohen Häusern und Türmen und von einem hellen und lichten Ansehen.

Braunschweig schien ihm länglicht, von dunklerm Ansehen und größer zu sein, und Paris stellte er sich nach eben einem solchen dunklen Gefühle bei dem Namen vorzüglich voll heller weißlichter Häuser vor.

Es ist dieses auch sehr natürlich: denn von einem Dinge, wovon man nichts wie den Namen weiß, arbeitet die Seele, sich auch vermittelst der entferntesten Ähnlichkeiten ein Bild zu entwerfen, und in Ermangelung aller andern Vergleichungen muß sie zu dem willkürlichen Namen des Dinges ihre Zuflucht nehmen, wo sie auf die hart oder weich, voll oder schwach, hoch oder tief, dunkel oder hell klingenden Töne merkt und zwischen denselben und dem sichtbaren Gegenstande eine Art von Vergleichung anstellt, die manchmal zufälligerweise eintrifft.

Bei dem Namen Lobenstein dachte sich Anton ohngefähr einen etwas langen Mann, deutsch und bieder, mit einer freien offnen Stirne usw.

Allein diesmal täuschte ihn seine Namendeutung sehr.

Es fing schon an dunkel zu werden, als Anton mit seinem Vater über die großen Zugbrücken und durch die gewölbten Tore in die Stadt Braunschweig einwanderte.

Sie kamen durch viele enge Gassen, vor dem Schlosse vorbei und endlich über eine lange Brücke in eine etwas dunkle Straße, wo der Hutmacher Lobenstein einem langen öffentlichen Gebäude gegenüber wohnte.

Nun standen sie vor dem Hause. Es hatte eine schwärzliche Außenseite und eine große schwarze Tür, die mit vielen eingeschlagenen Nägeln versehen war.

Oben hing ein Schild mit einem Hute heraus, woran der Name Lobenstein zu lesen war.

Ein altes Mütterchen, die Ausgeberin vom Hause, eröffnete ihnen die Tür und führte sie zur rechten Hand in eine große Stube, die mit dunkelbraun angestrichnen Brettern getäfelt war, worauf man noch mit genauer Not eine halb verwischte Schilderung von den fünf Sinnen entdecken konnte.

Hier empfing sie denn der Herr des Hauses. Ein Mann von mittlern Jahren, mehr klein als groß, mit einem noch ziemlich jugendlichen, aber dabei blassen und melancholischen Gesichte, das sich selten in ein andres als eine Art von bittersüßen Lächeln verzog, dabei schwarzes Haar, ein ziemlich schwärmerisches Auge, etwas Feines und Delikates in seinen Reden, Bewegungen und Manieren, das man sonst bei Handwerksleuten nicht findet, und eine reine, aber äußerst langsame, träge und schleppende Sprache, die die Worte wer weiß wie lang zog, besonders wenn das Gespräch auf andächtige Materien fiel: auch hatte er einen unerträglich intoleranten Blick, wenn sich seine schwarzen Augenbrauen über die Ruchlosigkeit und Bosheit der Menschenkinder und insbesondere seiner Nachbarn oder seiner eignen Leute zusammenzogen.

Anton erblickte ihn zuerst in einer grünen Pelzmütze, blauem Brusttuch und braunen Kamisol drüber nebst einer schwarzen Schürze, seiner gewöhnlichen Hauskleidung, und es war ihm beim ersten Blick, als ob er in ihm einen strengen Herrn und Meister statt eines künftigen Freundes und Wohltäters gefunden hätte.

Seine vorgefaßte innige Liebe erlosch, als wenn Wasser auf einen Funken geschüttet wäre, da ihn die erste kalte, trockne, gebieterische Miene seines vermeinten Wohltäters ahnden ließ, daß er nichts weiter wie sein Lehrjunge sein werde.

Die wenigen Tage über, daß sein Vater da blieb, wurde noch einige Schonung gegen ihn beobachtet; allein sobald dieser abgereist war, mußte er ebenso wie der andre Lehrbursch in der Werkstatt arbeiten.

Er wurde zu den niedrigsten Beschäftigungen gebraucht; er mußte Holz spalten, Wasser tragen und die Werkstatt auskehren.

So sehr dies gegen seine Erwartungen abstach, wurde ihm doch das Unangenehme einigermaßen durch den Reiz der Neuheit ersetzt. Und er fand wirklich eine Art von Vergnügen, selbst beim Auskehren, Holzspalten und Wassertragen.

Seine Phantasie aber, womit er sich alles dies ausmalte, kam ihm auch sehr dabei zustatten. – Oft war ihm die geräumige Werkstatt mit ihren schwarzen Wänden und dem schauerlichen Dunkel, das des Abends und Morgens nur durch den Schimmer einiger Lampen erhellt wurde, ein Tempel, worin er diente.

Des Morgens zündete er unter den großen Kesseln das heilige belebende Feuer an, wodurch nun den Tag über alles in Arbeit und Tätigkeit erhalten und so vieler Hände beschäftiget wurden.

Er betrachtete dann dies Geschäft wie eine Art von Amt, dem er in seinen Augen eine gewisse Würde erteilte.

Gleich hinter der Werkstatt floß die Oker, auf welcher eine Fülle oder Vorsprung von Brettern zum Wasserschöpfen hinausgebaut war.

Er betrachtete dies alles gewissermaßen als sein Gebiet – und zuweilen, wenn er die Werkstatt gereinigt, die großen eingemauerten Kessel gefüllt und das Feuer unter denselben angezündet hatte, konnte er sich ordentlich über sein Werk freuen – als ob er nun einem jeden sein Recht getan hätte – seine immer geschäftige Einbildungskraft belebte das Leblose um ihn her und machte es zu wirklichen Wesen, mit denen er umging und sprach.

Überdem machte ihm der ordentliche Gang der Geschäfte, den er hier bemerkte, eine Art von angenehmer Empfindung, daß er gern ein Rad in dieser Maschine mit war, die sich so ordentlich bewegte: denn zu Hause hatte er nichts dergleichen gekannt.

Der Hutmacher Lobenstein hielt wirklich sehr auf Ordnung in seinem Hause, und alles ging hier auf den Glockenschlag: Arbeiten, Essen und Schlafen.

Wenn ja eine Ausnahme gemacht wurde, so war es in Ansehung des Schlafs, der freilich ausfallen mußte, wenn des Nachts gearbeitet wurde, welches denn wöchentlich wenigstens einmal geschahe.

Sonst war das Mittagessen immer auf den Schlag zwölf, das Frühstück morgens und das Abendbrot abends um acht Uhr pünktlich da.

Dies war es denn auch, worauf bei der Arbeit immer gerechnet wurde- so verfloß damals Antons Leben: des Morgens von sechs Uhr an rechnete er bei seiner Arbeit aufs Frühstück, das er immer schon in der Vorstellung schmeckte, und wenn er es erhielt, mit dem gesundesten Appetit verzehrte, den ein Mensch nur haben kann, ob es gleich in weiter nichts als dem Bodensatz vom Kaffee mit etwas Milch und einem Zweipfennigbrote bestand.

Dann ging es wieder frisch an die Arbeit, und die Hoffnung aufs Mittagessen brachte wiederum neues Interesse in die Morgenstunden, wenn die Einförmigkeit der Arbeit zu ermüdend wurde.

Des Abends wurde Jahr aus, Jahr ein eine Kalteschale von starkem Biere gegeben. Reiz genug, um die Nachmittagsarbeiten zu versüßen.

Und dann vom Abendessen an bis zum Schlafengehen war es der Gedanke an die bald bevorstehende sehnlichgewünschte Ruhe, der nun über das Unangenehme und Mühsame der Arbeit wieder seinen tröstlichen Schimmer verbreitete.

Freilich wußte man, daß den folgenden Tag der Kreislauf des Lebens so von vorn wieder anfing. Aber auch diese zuletzt ermüdende Einförmigkeit im Leben wurde durch die Hoffnung auf den Sonntag wieder auf eine angenehme Art unterbrochen.

Wenn der Reiz des Frühstücks und des Mittags-und Abendessens nicht mehr hinlänglich war, die Lebens- und Arbeitslust zu erhalten, dann zählte man, wie lange es noch bis auf den Sonntag war, wo man einen ganzen Tag von der Arbeit feiern und einmal aus der dunklen Werkstatt vors Tor hinaus in das freie Feld gehen und des Anblicks der freien offnen Natur genießen konnte.

O, welche Reize hat der Sonntag für den Handwerksmann, die den höheren Klassen von Menschen unbekannt ist, welche von ihren Geschäften ausruhen können, wenn sie wollen. – ›Daß deiner Magd Sohn sich erfreue!‹ – Nur der Handwerksmann kann es ganz fühlen, was für ein großer, herrlicher, menschenfreundlicher Sinn in diesem Gesetze liegt! –

Wenn man nun auf einem Tag Ruhe von der Arbeit schon sechs Tage lang rechnete, so fand man es wohl der Mühe wert, auf drei oder gar vier Feiertage nacheinander ein Dritteil des Jahres zu rechnen.

Wenn selbst der Gedanke an den Sonntag oft nicht mehr fähig war, den Überdruß an dem Einförmigen zu verhindern, so wurde durch die Nähe von Ostern, Pfingsten oder Weihnachten der Lebensreiz wieder aufgefrischt.

Und wenn dies alles zu schwach war, so kam die süße Hoffnung an die Vollendung der Lehrjahre, an das Gesellenwerden hinzu, welches alles andre überstieg und eine neue große Epoche ins Leben brachte.

Weiter ging nun aber auch der Gesichtskreis bei Antons Mitlehrburschen nicht – und sein Zustand war dadurch gewiß um nichts verschlimmert.

Nach einer allgütigen und weisen Einrichtung der Dinge hat auch das mühevolle, einförmige Leben des Handwerksmannes seine Einschnitte und Perioden, wodurch ein gewisser Takt und Harmonie hereingebracht wird, welcher macht, daß es unbemerkt abläuft, ohne seinem Besitzer eben Langeweile gemacht zu haben.

Aber Antons Seele war durch seine romanhaften Ideen einmal zu diesem Takt verstimmt.

Dem Hause des Hutmachers grade gegenüber war eine lateinische Schule, die Anton zu besuchen vergeblich gehofft hatte – so oft er die Schüler heraus-und hineingehen sahe, dachte er mit Wehmut an die lateinische Schule und an den Konrektor in Hannover zurück – und wenn er gar etwa vor der großen Martinsschule vorbeiging und die erwachsenen Schüler herauskommen sahe, so hätte er alles darum gegeben, dies Heiligtum nur einmal inwendig betrachten zu können.

Einmal eine solche Schule besuchen zu dürfen, hielt er zwar bei seinem jetzigen Zustande beinahe für unmöglich; demohngeachtet aber konnte er sich einen schwachen Schimmer von Hoffnung dazu nicht ganz versagen.

Selbst die Chorschüler schienen ihm Wesen aus einer höhern Sphäre zu sein; und wenn er sie auf der Straße singen hörte, konnte er sich nicht enthalten, ihnen nachzugehen, sich an ihrem Anblick zu ergötzen und ihr glänzendes Schicksal zu beneiden.

Wenn er mit seinem Mitlehrburschen in der Werkstatt alleine war, suchte er ihm alle die kleinen Kenntnisse mitzuteilen, welche er sich teils durch eignes Lesen und teils durch den Unterricht, den er genossen, erworben hatte.

Er erzählte ihm vom Jupiter und der Juno und suchte ihm den Unterschied zwischen Adjektivum und Substantivum deutlich zu machen, um ihn zu lehren, wo er einen großen Buchstaben oder einen kleinen setzen müsse.

Dieser hörte ihm denn aufmerksam zu, und zwischen ihnen wurden oft moralische und religiöse Gegenstände abgehandelt. Antons Mitlehrbursche war bei diesen Gelegenheiten vorzüglich stark in Erfindung neuer Wörter, wodurch er seine Begriffe bezeichnete. So nannte er z.B. die Befolgung der göttlichen Befehle die Erfülligkeit Gottes. – Und indem er vorzüglich die religiösen Ausdrücke des Herrn Lobenstein von Ertötung usw. nachzunahmen suchte, geriet er oft in ein sonderbares Galimathias.

Mit vorzüglichem Nachdruck wußte er sich einiger Stellen aus den Psalmen Davids, worin eben keine sanftmütigen Gesinnungen gegen die Feinde geäußert werden, zu bedienen, wenn er glaubte, durch die Haushälterin oder jemand anders angeschwärzt und verleumdet zu sein.

So waren fast alle Hausgenossen mehr oder weniger von den religiösen Schwärmereien des Herrn Lobenstein angesteckt, ausgenommen der Geselle: dieser warf ihm, wenn er ihm manchmal zuviel von Ertötung und Vernichtung schwatzte, einen solchen tötenden und vernichtenden Blick zu, daß Herr Lobenstein sich mit Abscheu wegwandte und stillschwieg.

Sonst konnte Herr Lobenstein zuweilen stundenlange Strafpredigten gegen das ganze menschliche Geschlecht halten. Mit einer sanften Bewegung der rechten Hand teilte er dann Segen und Verdammnis aus. Seine Miene sollte dabei mitleidsvoll sein, aber die Intoleranz und der Menschenhaß hatten sich zwischen seinen schwarzen Augenbrauen gelagert.

Die Nutzanwendung lief denn immer, politisch genug, darauf hinaus, daß er seine Leute zum Eifer und zur Treue – in seinem Dienste ermahnte, wenn sie nicht ewig im höllischen Feuer brennen wollten.

Seine Leute konnten ihm nie genug arbeiten – und er machte ein Kreuz über das Brot und die Butter, wenn er ausging.

Dem Anton, der ihm vielleicht nicht genug arbeiten konnte, verbitterte er sein Mittagessen durch tausend wiederholte Lehren, die er ihm gab, wie er das Messer und die Gabel halten und die Speise zum Munde führen sollte, daß diesem oft alle Lust zum Essen verging, bis sich der Geselle einmal nachdrücklich seiner annahm und Anton doch nun in Frieden essen konnte. –

Übrigens aber durfte er es auch nicht wagen, nur einen Laut von sich zu geben, denn an allem, was er sagte, an seinen Mienen, an seinen kleinsten Bewegungen fand Lobenstein immer etwas auszusetzen; nichts konnte ihm Anton zu Danke machen, welcher sich endlich beinahe in seiner Gegenwart zu gehen fürchtete, weil er an jedem Tritt etwas zu tadeln fand. – Seine Intoleranz erstreckte sich bis auf jedes Lächeln und jeden unschuldigen Ausbruch des Vergnügens, der sich in Antons Mienen oder Bewegungen zeigte: denn hier konnte er sie einmal recht nach Gefallen auslassen, weil er wußte, daß ihm nicht widersprochen werden durfte.

Während der Zeit wurden die ganz verblichnen fünf Sinne an dem schwarzen Getäfel der Wand wieder neu überfirnißt – die Erinnerung an den Geruch davon, welcher einige Wochen dauerte, war bei Anton nachher beständig mit der Idee von seinem damaligen Zustande vergesellschaftet. So oft er einen Firnisgeruch empfand, stiegen unwillkürlich alle die unangenehmen Bilder aus jener Zeit in seiner Seele auf; und umgekehrt, wenn er zuweilen in eine Lage kam, die mit jener einige zufällige Ähnlichkeiten hatte, glaubte er auch, einen Firnisgeruch zu empfinden.

Ein Zufall verbesserte Antons Lage in etwas.

Der Hutmacher Lobenstein war ein äußerst hypochondrischer Schwärmer; er glaubte an Ahndungen und hatte Visionen, die ihm oft Furcht und Grauen erweckten.