Dies zeigt sich schon in der persönlichen Eitelkeit und Putzsucht534 der Jünglinge.

Die größte Energie und höchste Spannung der Geisteskräfte findet, ohne Zweifel, in der Jugend statt, spätestens bis ins 35. Jahr: von dem an nimmt sie, wiewohl sehr langsam, ab. Jedoch sind die späteren Jahre, selbst das Alter, nicht ohne geistige Kompensation dafür. Erfahrung und Gelehrsamkeit sind erst jetzt eigentlich reich geworden: man hat Zeit und Gelegenheit gehabt, die Dinge von allen Seiten zu betrachten und zu bedenken, hat jedes mit jedem zusammengehalten und ihre Berührungspunkte und Verbindungsglieder herausgefunden; wodurch man sie allererst jetzt so recht im Zusammenhange versteht. Alles hat sich abgeklärt. Deshalb weiß man selbst das, was man schon in der Jugend wusste, jetzt viel gründlicher; da man zu jedem Begriffe viel mehr Belege hat. Was man in der Jugend zu wissen glaubte, das weiß man im Alter wirklich, überdies weiß man auch wirklich viel mehr und hat eine nach allen Seiten durchdachte und dadurch ganz eigentlich zusammenhängende Erkenntnis; während in der Jugend unser Wissen stets lückenhaft und fragmentarisch ist. Nur wer alt wird, erhält eine vollständige und angemessene Vorstellung vom Leben, indem er es in seiner Ganzheit und seinem natürlichen Verlauf, besonders aber nicht bloß, wie die übrigen, von der Eingangs-, sondern auch von der Ausgangsseite übersieht, wodurch er dann besonders die Nichtigkeit desselben vollkommen erkennt, während die übrigen stets noch in dem Wahne befangen sind, das Rechte werde erst noch kommen. Dagegen ist in der Jugend mehr Konzeption; daher man alsdann aus dem Wenigen, was man kennt, mehr zu machen imstande ist: aber im Alter ist mehr Urteil, Penetration535 und Gründlichkeit. Den Stoff seiner selbsteigenen Erkenntnisse, seiner originalen Grundansichten, also das, was ein bevorzugter Geist der Welt zu schenken bestimmt ist, sammelt er schon in der Jugend ein: aber seines Stoffes Meister wird er erst in späten Jahren. Demgemäß wird man meistenteils finden, dass die großen Schriftsteller ihre Meisterwerke um das fünfzigste Jahr herum geliefert haben. Dennoch bleibt die Jugend die Wurzel des Baumes der Erkenntnis; wenngleich erst die Krone die Früchte trägt. Wie aber jedes Zeitalter, auch das erbärmlichste, sich für viel weiser hält, als das ihm zunächst vorhergegangene, nebst früheren; eben so jedes Lebensalter des Menschen: doch irren beide sich oft. In den Jahren des leiblichen Wachstums, wo wir auch an Geisteskräften und Erkenntnissen täglich zunehmen, gewöhnt sich das Heute mit Geringschätzung auf das Gestern herabzusehen. Diese Gewohnheit wurzelt ein und bleibt auch dann, wenn das Sinken der Geisteskräfte eingetreten ist und das Heute vielmehr mit Verehrung auf das Gestern blicken sollte; daher wir dann sowohl die Leistungen, wie die Urteile, unserer jungen Jahre oft zu gering anschlagen. Überhaupt ist hier zu bemerken, dass, ob zwar, wie der Charakter, oder das Herz des Menschen, so auch der Intellekt, der Kopf, seinen Grundeigenschaften nach, angeboren ist, dennoch dieser keineswegs so unveränderlich bleibt, wie jener, sondern gar manchen Umwandlungen unterworfen ist; die sogar, im ganzen, regelmäßig eintreten; weil sie teils darauf beruhen, dass er eine physische Grundlage, teils darauf, dass er einen empirischen Stoff hat. So hat seine eigene Kraft ihr allmähliches Wachstum, bis zur Akme536, und dann ihre allmähliche Dekadenz537, bis zur Imbezillität. Dabei nun aber ist andererseits der Stoff, der alle diese Kräfte beschäftigt und in Tätigkeit erhält, also der Inhalt des Denkens und Wissens, die Erfahrung, die Kenntnisse, die Übung und dadurch die Vollkommenheit der Einsicht, eine stets wachsende Größe, bis etwa zum Eintritt entschiedener Schwäche, die alles fallen lässt. Dies Bestehen des Menschen aus einem schlechthin Unveränderlichen und einem regelmäßig, auf zweifache und entgegengesetzte Weise, Veränderlichen erklärt die Verschiedenheit seiner Erscheinung und Geltung in verschiedenen Lebensaltern.

Im weitern Sinne kann man auch sagen: die ersten vierzig Jahre unseres Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu, der uns den wahren Sinn und Zusammenhang des Textes, nebst der Moral und allen Feinheiten desselben, erst recht verstehen lehrt. Gegen das Ende des Lebens nun gar geht es wie gegen das Ende eines Maskenballs, wenn die Larven538 abgenommen werden. Man sieht jetzt, wer diejenigen, mit denen man, während seines Lebenslaufes, in Berührung gekommen war, eigentlich gewesen sind. Denn die Charaktere haben sich an den Tag gelegt, die Taten haben ihre Früchte getragen, die Leistungen ihre gerechte Würdigung erhalten und alle Trugbilder sind zerfallen. Zu diesem allen nämlich war Zeit erfordert. – Das seltsamste aber ist, dass man sogar sich selbst, sein eigenes Ziel und Zwecke erst gegen das Ende des Lebens eigentlich erkennt und versteht, zumal in seinem Verhältnis zur Welt, zu den andern. Zwar oft, aber nicht immer, wird man sich dabei eine niedrigere Stelle anzuweisen haben, als man früher vermeint hatte; sondern bisweilen auch eine höhere, welches dann daher kommt, dass man von der Niedrigkeit der Welt keine ausreichende Vorstellung gehabt hatte und demnach sein Ziel höher steckte, als sie. Man erfährt beiläufig was an einem ist. Man pflegt die Jugend die glücklichste Zeit des Lebens zu nennen, und das Alter die traurige. Das wäre wahr, wenn die Leidenschaften glücklich machten. Von diesen wird die Jugend hin- und hergerissen, mit wenig Freude und vieler Pein. Dem kühlen Alter lassen sie Ruhe, und alsbald erhält es einen kontemplativen539 Anstrich: denn die Erkenntnis wird frei und erhält die Oberhand.