Für jetzt ist mein Hauptzweck, den merkwürdigsten aller Menschen so lange zu beobachten und zu studiren, bis ich ihn ganz zu kennen und zu verstehen glaube.

Ein einzigesmal habe ich in dieser Zeit mit Sokrates einem großen Gastmahl bei einem Athenischen Kalokagathos47 von der ersten Classe beigewohnt; wo einem Cyrener die Mischung von Ueppigkeit und Pracht mit übel verhehlter Armuth und Knauserei nicht anders als auffallend seyn mußte. Reich scheinen zu wollen, so wie überhaupt mehr zu scheinen als sie sind, ist eines der charakteristischen Erbübel der Cekropiden48; dafür, daß niemand mehr reich sey, haben die Spartaner gesorgt, und es wird eine Reihe von Jahren dazu gehören, bis Athen sich von den Folgen ihres mißlungenen Anschlags auf Sicilien, und des so unglücklich für sie ausgefallenen Peloponnesischen Verheerungskrieges erholt haben wird.

Sokrates galt ehmals für einen sehr angenehmen Tischgesellschafter, und viele der vornehmsten Athener würden ein festliches Gastmahl für unvollständig gehalten haben, wenn Sokrates dabei gefehlt hätte. Jetzt pflegt er eine solche Einladung nur selten anzunehmen. Ziemlich oft hingegen geschieht es, daß seine Freunde Abends in seinem Hause speisen, indem jeder sein Gericht hinschickt; eine in Athen gewöhnliche und meines Erachtens sehr nachahmungswürdige Art, den Abend in auserlesener Gesellschaft ohne Belästigung des Hauswirths zuzubringen; vorausgesetzt, daß das Höchste was eine Schüssel kosten darf, durch gemeinschaftliche Abrede nach einem sehr frugalen Maßstabe bestimmt sey. Diese kleinen freundschaftlichen Symposien49 sind durch die genialische Art, wie Sokrates Ernst und Scherz bald abzuwechseln bald in einander zu schmelzen weiß, für mich wenigstens, die unterhaltendste und sogar die lehrreichste Zeit, die ich in seiner Gesellschaft zubringe.

 

7.

 

An Ebendenselben.

Ich finde je länger je mehr, wie falsch der Begriff ist, den man sich im Auslande von Sokrates macht, indem man ihn für einen Philosophen oder Sophisten50 von Profession und das Haupt einer eigenen Schule hält. Er ist, wiewohl er vielerlei Kenntnisse besitzt, kein eigentlicher Gelehrter, und ob er gleich ein sehr weiser und kluger Mann ist, weder das, was man einen Philosophen noch was man einen Staatsmann zu nennen pflegt; oder, richtiger zu reden, seine Weisheit und Klugheit war es eben, was ihn abhielt sich aus dem einen oder dem andern dieser Qualitäten eine Lebensart zu machen. Er ist ein zu edler und guter Mensch um ein bloßer Bürger von Athen, und gleichwohl zu sehr Bürger von Athen um ein ächter Weltbürger zu seyn. Man erstaunt, bei einem Manne, der (wenn man ein Paar Feldzüge ausnimmt) nie aus Athen gekommen ist, einen solchen Umfang von Welt- und Menschenkenntniß, einen so hellen, von Vorurtheilen und Wahnbegriffen so gereinigten Verstand, und einen so feinen Sinn für die rechte Art mit allen Gattungen von Menschen umzugehen, zu finden; und doch däucht mich (wenn ich dieß ohne Schein eines thörichten Dünkels gestehen darf) ich sehe zuweilen eine gewisse Beschränktheit in seiner Vorstellungsart, die mir bloß daher zu kommen scheint, daß er sich unvermerkt angewöhnt hat, Athen, den Mittelpunkt seiner eigenen Thätigkeit, für den Mittelpunkt der Welt, und was außer Athen ist, keiner sonderlichen Aufmerksamkeit werth zu halten. Ob ich mich hierin irre, darüber werde ich vielleicht in der Folge Gelegenheit finden, dich selbst zum Richter zu machen.

Um mir beim Erforschen dieses in seiner Art so ganz einzigen Mannes viele Zeit und manchen Fehlschluß zu ersparen, habe ich mir Mühe gegeben, über seine Lebensgeschichte so viele und so zuverlässige Erkundigungen einzuziehen als mir nur immer möglich war.

Sein Vater Sophroniskus war ein Steinmetz, und seine Mutter Phänarete die geschickteste und ihres Charakters wegen geschätzteste Hebamme ihrer Zeit in Athen. Er scheint sich auf diese Mutter etwas zu gute zu thun; denn er liebt ihrer bei Gelegenheit öfters zu erwähnen, und soll einst, da ihm über sein Talent junge Leute zu bilden ein Compliment gemacht wurde, in seiner gewohnten Manier Ernst in Scherz einzukleiden, zur Antwort gegeben haben: es ist ein Erbstück von meiner Mutter; meine ganze Kunst besteht in einer gewissen Geschicklichkeit die Entbindung schwangerer Seelen zu befördern.51 Die Frucht die ans Tageslicht kommen soll, muß freilich schon lebendig, gesund und wohlgestaltet in der Seele verborgen liegen, und alles was ich bei der Geburt thun kann, ist, ihr leicht und mit guter Art herauszuhelfen. Personen, die seine Eltern gekannt haben, versicherten mich, daß er äußerlich seinem Vater, und dem Gemüth und der Sinnesart nach seiner Mutter sehr ähnlich sey.

Sophroniskus that an seinem Sohne – was er konnte; er gab ihm die gewöhnliche Erziehung aller jungen Athener jener Zeit, die du aus der Scene der beiden Streithähne, Dikäos und Adikos Logos52, in den berüchtigten Wolken des Aristophanes kennst. Der junge Sokrates lernte bei einem Schulhalter vom gewöhnlichen Schlage den Homer und Hesiod, wo nicht verstehen, wenigstens fertig lesen; von einem Singmeister auf der Cither klimpern und alte Lieder nach alten Weisen singen; und übte sich übrigens fleißig im Wettlaufen, Ringen und Fechten auf der Palästra. Der Vater, um seiner Pflicht (nach einem bekannten Gesetze Solons) volle Genüge zu thun, lehrte ihn seine eigene Kunst; die Mutter, welche bei Zeiten merkte, an diesem Sohn etwas mehr als einen künftigen Steinhauer geboren zu haben, wollte wenigstens einen Bildhauer aus ihm werden sehen; und so wurde er, ich weiß nicht welchem damaligen Meister dieser Kunst, in die Lehre gegeben. Es scheint nicht daß er selbst eine besondre Anlage oder Neigung zu ihr in sich gefühlt habe; indessen bracht' er es doch darin auf einen gewissen Grad; machte bis über sein dreißigstes Jahr seine hauptsächlichste Beschäftigung daraus, und fertigte binnen dieser Zeit unter andern Arbeiten verschiedene Statuen, wovon die meisten in einem Landhause seines Freundes Kriton zu sehen sind, der sich viele Mühe gegeben hat, so viele derselben zusammenzubringen, als für Geld zu haben waren. Ich habe sie gesehen, und da ich auch die Werke des Polyklet und Phidias gesehen habe, so darf ich dir ohne Scheu bekennen, daß Sokrates, dessen wahre Bestimmung war der weiseste und beste unter den Weisen und Guten seiner Zeit zu seyn, schwerlich weder der erste noch der zweite, noch der dritte unter den Bildhauern seiner Zeit geworden wäre. Indessen zeichnet sich doch unter seinen Versuchen in der Kunst eine Gruppe der Grazien aus, an welcher er wirklich mit Liebe und unter dem Einfluß der holdseligen Töchter Jupiters gearbeitet zu haben scheint; man sieht, daß ihm Pindars semnai Xarites, panton tamiai ergon en oyrano53 wirklich erschienen, und daß er im Bestreben, die Ideale, die seiner Seele vorschwebten, im Marmor festzuhalten, vielleicht noch mehr geleistet hätte, wenn er weniger hätte leisten wollen. Denn das einzige was an diesen Grazien auszusetzen ist, und was jedem der sie sieht auffällt, ist daß sie gar zu ehrwürdig sind.

Dem besagten Kriton hat es Griechenland zu danken, daß es sich unter seinen Heroen aller Art auch eines Sokrates rühmen kann; ohne ihn wäre dieser wahrscheinlich Bildhauer geblieben, und die reinste sittliche Gestalt, in welcher die Humanität je der Welt persönlich im wirklichen Leben sichtbar geworden ist, würde wo nicht unenthüllt, doch auf ewig mit dem Schleier der Unbekanntheit und Vergessenheit bedeckt geblieben seyn. Kriton, noch jetzt der erste, so wie der älteste unter den Freunden des Sokrates, dem er an Alter etliche Jahre vorgeht, ist in den Augen aller, die ihn kennen und Menschenwerth zu schätzen wissen, einer der Edelsten, die dieses an vortrefflichen Männern fruchtbare Land seit Deukalion und Pyrrha hervorgebracht hat. Glücklicher Weise ist er auch einer der wohlhabendsten Athener, und im Gebrauch seines ansehnlichen Vermögens so großmüthig und freigebig als der berühmte Cimon, ja selbst auf eine noch verdienstlichere Weise, da kein Verdacht auf ihn fallen kann, daß ein ehrsüchtiges Streben nach Volksgunst oder irgend eine andere unlautere Absicht den mindesten Einfluß auf seine Freigebigkeit habe. Zufälliger Weise (wie man, vielleicht sehr uneigentlich, zu sagen pflegt) kam er in die Werkstatt des alten Sophroniskus, als der Sohn die erwähnte Graziengruppe eben vollendet hatte. Er betrachtete das Werk und den Werkmeister mit gleicher Aufmerksamkeit, ließ sich mit dem angehenden Künstler in ein Gespräch ein, und beschloß von Stunde an, sich um sein Vertrauen zu bewerben, und wenn er es gewonnen hätte, alles anzuwenden um ihn mit guter Manier aus der Stein-und Bildhauer-Werkstatt in eine seinen natürlichen Anlagen angemessenere Art von Thätigkeit zu versetzen.

Es befanden sich damals drei Männer in Athen, deren jeder in dem Fache von Gelehrsamkeit, welches er vorzüglich bearbeitete, für den ersten galt: Anaxagoras54 von Klazomene, ein Philosoph aus der Schule des Thales, der Sophist Prodikus von Ceos und Damon, ein geborner Athener, einer der berühmtesten Tonkünstler seiner Zeit. Der erste hatte das Studium der Natur, wiewohl auf einem falschen Wege, der zweite die Kunst zu reden, als eines der mächtigsten Werkzeuge, wodurch man in Republiken auf die Menschen wirken kann, der dritte, die Theorie der Musik, insofern sie eine Art von magischer Gewalt über das Gemüth und die Leidenschaften auszuüben fähig ist, zum Hauptgeschäfte seines Forschens gemacht. Alle drei genossen des Schutzes und der Achtung des großen Perikles, die vornehmsten Athener suchten ihren Umgang, und jedermann schätzte es für ein besondres Glück, wenn er seinem Sohne den Zutritt bei dem ersten, und den Unterricht der beiden andern verschaffen konnte.

Sobald Kriton den Vorsatz gefaßt hatte, sich des jungen Sokrates mit Ernst anzunehmen, war seine erste Sorge, ihn mit diesen drei Männern, mit welchen er selbst auf einem freundschaftlichen Fuße lebte, in Bekanntschaft zu setzen; denn er zweifelte nicht, daß sie stark auf den jungen Mann wirken und gar bald den Gedanken in ihm erwecken würden, die Natur habe ihn zu einer höhern Bestimmung berufen, als in Thon, Holz und Stein zu arbeiten. Verehrern der Kunst, wie du und ich, mag dieß etwas anstößig klingen; aber die meisten Griechen machten sich damals und noch jetzt einen viel zu geringen Begriff von derselben, und ein Bildhauer war in ihren Augen am Ende doch nichts weiter als ein Handwerksmann, der sein Brod durch mechanische Handarbeit in einer harten Materie sauer und mühselig verdienen müsse. Wahrscheinlich hatte Kriton selbst damals keinen andern Gedanken, als den jungen Sokrates in eine höhere Classe hinaufzurücken, und durch Entwicklung und Ausbildung seiner Fähigkeiten in den Stand zu setzen, dereinst eine bedeutende Rolle in der Republik zu spielen. Auch erreichte er seine Absicht, wiewohl in einem ganz andern Sinne, und in der That auf eine weit vollkommnere Art als er sich vorgestellt haben mochte. Der Sohn des Sophroniskus gewann in kurzer Zeit die Zuneigung des gelehrten Triumvirats; sie machten sich ein Vergnügen daraus, ihm Anleitung zu geben und von ihren Kenntnissen so viel mitzutheilen als er davon gebrauchen konnte und wollte. Denn, wiewohl er sich mehrere Jahre lang mit allen Arten der speculativen Wissenschaften, die von der Ionischen Philosophenschule damals mit ungemeinem Beifall betrieben, und von den sogenannten Sophisten nach ihrer eigenen Weise popularisirt wurden, mit vielem Fleiß gelegt haben soll, so scheint er doch ziemlich bald einen Beruf in sich gefühlt zu haben, seinen eigenen Weg zu gehen, und sich sowohl in Meinungen als im Leben unabhängig und frei von fremdem Einfluß zu erhalten. Es war ein Leichtes gewesen seine Wißbegierde zu erwecken: die sogenannte physische Philosophie, von welcher Anaxagoras Profession machte, hatte unendlich viel Anziehendes. Denn sie versprach nichts Geringeres, als den undurchdringlichen Vorhang, hinter welchem die Natur ihre Mysterien treibt, wegzuziehen, und über die angelegensten Fragen, die der menschliche Geist an sich selbst zu thun sich nicht erwehren kann, befriedigende Aufschlüsse zu geben.