Es ist
Zeit, dass ich
innehalte, die [68] Zauberkraft des Trankes scheint
nachzulassen. Es ist
offenkundig, dass die Wahrheit, die ich suche, nicht
in ihm ist, sondern in mir.
Er hat sie erweckt, kennt sie aber nicht und kann nicht mehr leisten,
als endlos, mit
ständig abnehmender Kraft, jenes Zeugnis zu wiederholen,
das ich nicht zu
deuten weiß und das ich wenigstens immer wieder von ihm einzufordern und in
Gänze erhalten zu können wünsche, zu meiner Verfügung, umgehend,
bis zur entscheidenden Erleuchtung. Ich stelle die Tasse ab und wende mich meinem Geist
zu. Er ist es, der die
Wahrheit finden muss. Aber wie? Nagende Ungewissheit tritt immer ein, wenn der
Geist über sich hinauszuwachsen versucht, wenn er, der Suchende, zugleich
das Schattenreich ist, in dem er suchen soll und wo sein ganzes
Rüstzeug für
ihn nutzlos wird. Suchen? Eher: erschaffen. Er sieht
sich einem Etwas
gegenüber, das noch nicht ist und das allein er verwirklichen und dann in sein
Licht treten lassen kann.
Und ich
beginne wieder, mich zu fragen, was dieser unbekannte
Zustand sein konnte,
der keinen logischen Beweis, wohl aber die Gewissheit seiner
Glückseligkeit, seiner Wirklichkeit mit sich brachte, vor der
sich alle anderen Gewissheiten in Rauch auflösten. Ich will
versuchen, sie abermals erscheinen zu lassen. Ich gehe in Gedanken
zu dem Augenblick zurück, in dem ich den ersten Löffel
Tee zu mir nahm. Ich finde denselben Zustand wieder, ohne neue Klarheit. Ich
verlange von meinem Geist eine zusätzliche Anstrengung, sich
noch einmal des Gefühls zu bemächtigen, das sich ihm
entzieht. Und damit nichts sich dem Schwung in den Weg stellt, mit
dem er versucht, es wieder zu ergreifen, werfe ich jedes Hindernis,
alle nicht zugehörigen Gedanken ab, ich verschließe
meine Ohren und meine Wahrnehmung gegen die Geräusche aus dem
Nachbarzimmer. Als ich jedoch spüre, dass mein Geist sich
erfolglos abmüht, zwinge ich ihn ganz im Gegenteil zu jener
Ablenkung, die ich ihm zuvor verwehrt hatte: an anderes zu denken,
sich vor [69] einer äußersten Anstrengung zu
erholen. Dann schaffe ich zum zweiten Mal Leere um ihn, rücke
den noch gegenwärtigen Geschmack jenes ersten Schluckes vor
ihn, und ich fühle in mir etwas erzittern, das sich
ablöst, sich erheben möchte, etwas, dessen Anker sich in
großer Tiefe zu lichten hätte; ich weiß nicht, was
es ist, aber dieses Etwas steigt langsam herauf; ich spüre den
Widerstand und vernehme das Rauschen der durchmessenen
Weiten.
Gewiss, was
sich da am Grunde meines Ichs regt, muss das Bild, die bildhafte
Erinnerung sein, die, an jenen Geschmack gekettet, diesem bis zu
mir folgen möchte. Aber sie zögert in zu großer
Entfernung, noch zu undeutlich; kaum kann ich den unbestimmten
Abglanz wahrnehmen, in den der unfassliche Wirbel* einander
umschlingender Farben zerfließt; ich kann die Gestalt nicht
erkennen, sie nicht als einzigen möglichen Dolmetscher bitten,
mir die Aussage ihres Zeitgenossen, ihres unzertrennlichen
Gefährten, des Geschmacks, zu übersetzen, sie nicht
bitten, mich wissen zu lassen, um welche besondere Bewandtnis,
welche Epoche der Vergangenheit es sich handelt.
Wird diese
Erinnerung noch an die Oberfläche meines klaren Bewusstseins
aufsteigen, jener einstige Augenblick, den die Anziehung eines aus
so weiter Ferne gekommenen gleichen Augenblicks am Grunde meines
Ichs aufgestört, in Bewegung gesetzt, emporgehoben hat? Ich
weiß es nicht. Jetzt spüre ich nichts mehr, sie hat
innegehalten, ist womöglich wieder versunken; wer weiß,
ob sie jemals aus ihrer Nacht wieder aufsteigen wird? Zehnmal
musste ich von vorn anfangen, mich wieder ihr zuneigen. Und
jedesmal riet mir die Trägheit, die uns von allen schwierigen
Aufgaben, von allen wichtigen Arbeiten abbringen will, es doch zu
lassen, meinen Tee zu trinken und dabei einfach an meine heutigen
Ärgernisse zu denken oder an meine Wünsche für
morgen, die sich ohne Mühe herbeizitieren lassen.
[70] Und dann ist mir ganz plötzlich die
Erinnerung erschienen. Dieser Geschmack war der des kleinen
Stücks Madeleine, das meine Tante Léonie* mir
eines Sonntagmorgens, als ich in ihr Zimmer ging, um ihr guten
Morgen zu sagen (denn an jenem Tag ging ich nicht vor der Messe aus
dem Haus), in Combray angeboten hatte, nachdem sie es in ihren
Aufguss von Teeblättern oder Lindenblüten getaucht hatte.
Der Anblick der Kleinen Madeleine hatte nichts in mir
ausgelöst, bis ich sie probiert hatte; vielleicht hatte ihr
Bild, weil ich sie seitdem, freilich ohne davon zu essen, häufiger auf den Blechen
der Bäcker hatte
liegen sehen, die Tage von Combray verlassen und
sich mit anderen,
gegenwärtigeren verbunden; vielleicht, weil von den so
lange aus dem Gedächtnis
verbannten Erinnerungen nichts überlebt hatte, alles
zerfallen war; die Formen
– unter ihnen auch die kleinen Muscheln aus Backwerk, so
unverschämt sinnlich unter ihren strengen, frommen Falten
– hatten sich aufgelöst oder schlafversunken die Kraft
zur Ausdehnung verloren, die es ihnen gestattet hätte, sich im
Bewusstsein wieder einzustellen. Jedoch, wenn von einer vergangenen
Zeit nichts mehr besteht, verweilen nach dem Tod der Wesen, nach
der Zerstörung der Dinge, einzig der Geruch und der
Geschmack, losgelöst,
zerbrechlicher, aber lebhafter, vergeistigter, beständiger,
getreuer, noch lange Zeit, wie die Seelen, um sich zu entsinnen, um
zu warten, um zu hoffen, über den Trümmern von allem
anderen, um unbeirrt auf ihren fast nicht greifbaren Tröpfchen
das ungeheure Bauwerk der Erinnerung weiterzutragen*.
Und nachdem
ich den Geschmack des in Lindenblütentee getauchten
Stücks Madeleine, das mir meine Tante damals gab,
wiedererkannt hatte (wobei ich immer noch nicht wusste, warum diese
Erinnerung mich so glücklich machte, und die Erforschung auf
sehr viel später vertagen musste), trat auch das alte graue
Haus, wo sich an der Straßenfront ihr Zimmer befand, wie
eine [71] Theaterdekoration zu dem kleinen rückseitigen
Häuschen hinzu, das man für meine Eltern im hinteren Teil
des Gartens erbaut hatte (also zu dem herausgeschnittenen
Mauerstück, das ich bis dahin als einziges hatte
wiedererkennen können); und mit dem Haus die Stadt, von
morgens bis abends und durch alle Jahreszeiten, der Markt, auf den
man mich vor dem Essen
schickte, die Straßen, in denen ich Besorgungen erledigte,
die Wege, die man bei
schönem Wetter einschlug. Und wie in jenem Spiel, mit dem die Japaner sich
vergnügen, indem sie in eine wassergefüllte
Porzellanschale kleine, zunächst unscheinbare
Papierstückchen tauchen, die, sobald sie hinabgesunken sind,
sich strecken, winden, färben, Kontur gewinnen, zu Blumen
werden, zu Häusern, zu vollkommenen, wiedererkennbaren
Personen*, ganz so sind
nun all die Blumen in unserem Garten und in dem Park von Monsieur
Swann, die Seerosen der Vivonne*, die guten Leute des Dorfes
und ihre kleinen Häuser, die Kirche und ganz Combray und seine
Umgebung, alles was Form und Gestalt annehmen kann, Stadt und
Gärten, aufgestiegen aus meiner Tasse Tee.
II
Combray war von
weitem, auf zehn Meilen im Umkreis, wie wir es von der Eisenbahn
aus sahen, wenn wir in der letzten Woche vor Ostern dort ankamen,
kaum mehr als ein von seiner Kirche überragter Ort, die ihn
vertrat, die von ihm und für ihn aus der Entfernung sprach,
während sie um ihren stolzen düsteren Umhang, wie eine
junge Hirtin* ihre Schafe auf offenem Feld
gegen den Wind, die wolligen grauen Rücken der Häuser
versammelte, die, wenn man näher kam, hier und da der Rest
einer mittelalterlichen Stadtmauer in einer vollkommenen Kreisform
umfasste, wie eine kleine [72]
Ortschaft in einem
Renaissancegemälde*. Um dort zu wohnen, war
Combray ein wenig zu trübselig, denn seine Straßen, mit
ihren aus dem grauen Stein der Gegend gebauten Häusern, zu
deren Eingang Außentreppen führten und deren
Giebelhauben ihre Schatten vor sich warfen, waren so dunkel, dass
man, sobald der Tag sich neigte, die Vorhänge in den
»Guten Stuben« aufziehen musste; Straßen mit den
gewichtigen Namen von Heiligen (von denen mehrere mit der
Geschichte der ersten Herren von Combray zusammenhingen): Rue
Saint-Hilaire, Rue Saint-Jacques*, in der das Haus meiner
Tante stand, Rue Sainte-Hildegarde*, auf die das Gittertor
hinausging, die Rue du Saint-Esprit, zu der sich die kleine Seitenpforte im Garten
meiner Tante öffnete; und diese Straßen von Combray sind
in einem derart entlegenen Winkel meines Gedächtnisses noch
vorhanden, in Farben gemalt, die so ganz verschieden sind von
denen, die heute für mich die Welt bekleiden, dass sie mir,
wie auch die Kirche, die sie vom Marktplatz aus beherrschte,
eigentlich noch viel unwirklicher vorkommen als etwa die
Projektionen der Laterna
magica; und dass es mir in gewissen Augenblicken so erscheint, als stellte die
Möglichkeit, die Rue Saint-Hilaire wieder überqueren, ein
Zimmer in der Rue de l’Oiseau nehmen zu können – in
dem alten Gasthof »L’Oiseau Flesché*«, aus dessen Kellerfenstern sich ein Geruch
nach Küche verbreitete, wie er auch jetzt zuweilen wieder in mir aufsteigt,
ebenso intermittierend und ebenso heiß – eine weit wunderbarere
übernatürliche Kontaktaufnahme mit dem
Jenseits dar, denn die
Bekanntschaft Golos zu machen und mit Genoveva von Brabant zu
plaudern.
Die Cousine
meines Großvaters – meine Großtante –, bei
der wir wohnten, war
die Mutter jener Tante Léonie, die seit dem Tod ihres
Gatten, meines Onkels
Octave, erst Combray nicht mehr verlassen wollte, dann ihr Haus in
Combray, dann ihr Zimmer, schließlich ihr Bett, und nicht mehr
»hinabstieg«, sondern [73] ständig in einen unbestimmten Zustand von Kummer, Hinfälligkeit,
Krankheit, von fixen Ideen und Frömmigkeit eingebettet dalag. Ihre eigene Wohnung
ging auf die Rue
Saint-Jacques hinaus, die weiter draußen zu der
»Großen Wiese« führte (im Unterschied zur »Kleinen
Wiese«, die mitten im Ort zwischen drei Straßen grünte), und die
– schmucklos, gräulich, mit den drei hohen Steinstufen vor fast jeder
Tür – einem Defilee ähnelte, das ein gotischer Bildhauer in den
gleichen Stein geschlagen hatte, aus dem er auch eine Krippe oder einen
Kalvarienberg gemeißelt haben würde. Meine Tante bewohnte
eigentlich nur noch zwei einander benachbarte Zimmer, in deren einem sie sich am
Nachmittag aufhielt
während das andere gelüftet wurde. Es war jene Art
kleinbürgerlicher Zimmer, die – so wie
in manchen Ländern weite
Bereiche der Luft oder des Meeres von Myriaden von Urtierchen, die wir nicht sehen
können, erleuchtet oder durchduftet werden*
– uns mit Tausenden von
Gerüchen bezaubern, die aus den Tugenden, der Weisheit, den Gewohnheiten
strömen, dem ganzen geheimen, unsichtbaren,
überquellenden,
moralischen Leben, das von der Atmosphäre dort in der
Schwebe gehalten wird; noch
natürliche Gerüche, gewiss, und jahreszeitlich
eingefärbt wie
draußen auf dem Land, aber doch schon sesshaft,
menschlich und
gezähmt, ein auserlesenes, geschickt bereitetes,
durchscheinendes Gelee aus all den Früchten des Jahres, die aus dem
Obstgarten in den Vorratsschrank umgezogen sind; gebunden an die
Jahreszeiten, beweglich und häuslich zugleich, das Würzig-Prickelnde des
Rauhreifs* mit der Süße des
warmen Brotes
ausgleichend, gelassen und zuverlässig wie eine Kirchturmuhr,
verbummelt und ordentlich, unbekümmert und vorausschauend, gewaschen
und gestärkt, morgenstündlich, gläubig,
glücklich in
einem Frieden, der nichts weiter bringt als ein Anwachsen
der Ängste und ein
prosaisches Alltagsverständnis, die demjenigen, der sie
durchquert ohne in ihr
[74] gelebt zu haben, einen unerschöpflichen Vorrat
an Poesie bietet. Die Luft
war dort mit dem edelsten Extrakt einer so nährenden, so bekömmlichen
Stille gesättigt, dass ich mich ihr nicht ohne eine Art von Heißhunger
nähern konnte, besonders in diesen ersten, noch immer kalten Morgenstunden
der Osterwoche, in
denen ich sie noch mehr genoss, weil ich gerade erst in Combray angekommen war: bevor ich
eintrat, um meiner Tante einen guten Morgen zu wünschen, ließ man
mich einen Augenblick
im vorderen Zimmer warten, in das die noch winterliche
Sonne eintrat, um sich in der
Wärme vor dem Feuer niederzulassen, das schon zwischen den beiden Ziegelsteinen
angezündet war, das ganze Zimmer mit dem Geruch von Ruß einfärbte
und daraus so etwas
wie einen großen ländlichen »Ofenplatz«
machte, oder etwas wie
die Kaminabzüge in Schlössern, unter denen man sich
wünscht, dass
sich von draußen Regen, Schnee, womöglich gar eine
Überschwemmungskatastrophe ankündigen und so dem Wohlgefühl der
Zurückgezogenheit noch die Poesie des Winterschlafs hinzufügen; ich ging ein
paar Schritte vom Gebetsschemel zu den samtbezogenen Sesseln, auf denen stets ein
gehäkeltes Schondeckchen für den Kopf lag; und das Feuer, das die
appetitanregenden, klumpig in der Luft des Zimmers hängenden Gerüche
und die feuchte und
sonnige Frische des Morgens schon hatte arbeiten und
»aufgehen«
lassen, buk sie wie einen Teig, rollte sie aus, bestrich sie mit Dotter, faltete sie,
trieb sie auf und machte daraus einen unsichtbaren und handfesten
ländlichen Kuchen, eine riesige »Apfeltasche«, von der ich, kaum dass
die knusprigeren, feineren, edleren, aber auch trockeneren Aromen des Wandschranks, der
Kommode, der Rankentapete meinen Gaumen berührt hatten, mit ungestillter Gier
immer wieder nahm, um
die klebrige, fade, schwerverdauliche und fruchtige Geruchsmischung
der geblümten Bettdecke in mich hineinzuschlingen.
[75] Im Nachbarzimmer hörte ich meine
Tante, die mit halblauter Stimme mit sich selbst redete. Sie sprach
immer nur leise, weil sie glaubte, dass sie im Kopf irgendein
abgebrochenes, loses Stück sitzen habe, das sich verschieben
könnte, wenn sie zu laut spräche, aber selbst wenn sie
allein war, blieb sie nie lange stumm, denn sie glaubte auch, dass
Sprechen gesund sei für ihre Kehle und dass, wenn sie in
dieser Weise das Blut daran hindere, dort stehen zu bleiben, auch
die Erstickungsanfälle und die Beklemmungen, unter denen sie
litt, weniger häufig auftreten würden; außerdem
maß sie, bei der völligen Untätigkeit, in der sie
lebte, den geringfügigsten Empfindungen eine ganz
außerordentliche Bedeutung bei; sie stattete sie mit einer
Bewegungsfähigkeit aus, die es ihr schwermachte, sie für
sich zu behalten, und da es an Vertrauten mangelte, denen sie davon
etwas hätte mitteilen können, erzählte sie sich
selbst darüber, in einem endlosen Monolog, der ihre einzige
Form der Betätigung ausmachte. Da sie auch die Gewohnheit
angenommen hatte, laut zu denken, und unglücklicherweise nicht
immer darauf achtete, dass niemand im Nebenzimmer war, hörte
ich sie manchmal zu sich sagen: »Ich muss fest daran denken,
dass ich nicht geschlafen habe« (denn niemals zu schlafen war
für sie ein zentraler Ehrenpunkt, den wir alle in unserer
Sprache berücksichtigten und dem wir sie anpassten: am Morgen
ging Françoise nicht, um sie zu »wecken«,
sondern bei ihr »einzutreten«; wenn meine Tante am Tag
ein wenig schlafen wollte, sagten wir, sie wolle
»nachdenken« oder »ruhen«; und wenn sie
sich im Gespräch
so weit vergaß zu sagen: »was mich aufgeweckt hat
…« oder »ich habe geträumt, dass
…«, so errötete sie und verbesserte sich
eiligst).
Bald darauf
trat ich ein, um ihr einen Begrüßungskuss zu geben;
Françoise goss schwarzen Tee für sie auf; oder aber ich
erhielt, wenn meine Tante sich unruhig fühlte und nach ihrem
Kräutertee verlangte, den Auftrag, aus dem Beutelchen von der
Apotheke eine [76] Portion Lindenblüten auf einen
Teller zu schütten, die man dann ins kochende Wasser geben
musste. Die Trocknung hatte die Stengel zu einem wunderlichen
Geflecht gebogen, in dessen Zwischenräumen sich die bleichen
Blüten öffneten, als ob ein Maler sie arrangiert, sie in
die schmückendste Anordnung gebracht hätte. Die
Blätter, die ihr Aussehen verloren oder verändert hatten,
wirkten wie gänzlich andere Dinge, von dem durchsichtigen
Flügel einer Fliege über die weiße Rückseite
eines Preisschildchens bis hin zum Blatt einer Rose, doch als
wären sie aufgehäuft, zusammengedrückt und
miteinander verflochten worden wie bei der Herstellung eines
Nestes. Tausende kleiner nutzloser Einzelteile – eine
liebenswürdige Großzügigkeit des Apothekers
–, die man in der industriellen Fertigung beseitigt
hätte, verschafften mir, wie ein Buch, in dem man unverhofft
auf den Namen einer Person trifft, die man persönlich kennt, das
Vergnügen, wahrnehmen zu können, dass es sich hier
wirklich um die Blütenstengel echter Linden handelte, solcher,
wie man sie in der Bahnhofstraße sieht, verändert zwar,
doch gerade deshalb verändert, weil sie keine Nachahmungen,
sondern weil sie selbst es waren, wenn auch stark gealtert. Da
jedes neue Merkmal nur die Metamorphose eines alten Merkmals war,
erkannte ich nun in den kleinen grauen Kugeln die grünen
Knospen, die nicht rechtzeitig aufgegangen waren; doch vor allem
zeigte mir der rosige, mondhafte, zarte Schimmer, mit dem sich die
Blüten aus dem zerbrechlichen Wald von Stengeln hervorhoben,
über dem sie wie kleine Rosen aus Gold schwebten – ein
Zeichen, wie der Schimmer, der auf einer Wand die Stelle eines
ausgelöschten Freskos kenntlich macht, für den
Unterschied zwischen jenen Teilen des Baumes, die »in Farbe
gestanden« hatten, und denen, die es nicht getan hatten
–, dass diese Blütenblätter wahrscheinlich die
gleichen waren, die, bevor sie das Säckchen des Apothekers
erblühen ließen, die Frühlingsabende mit Wohlgeruch
erfüllt hatten. [77]
Diese wachsrosa Flamme trug
noch immer ihre eigene Farbe, jedoch schon halb erloschen und dem
verminderten Leben angepasst, das jetzt das ihrige war und das
einer Blumendämmerung gleicht.
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