Ich dachte an die glänzende Seide und die strahlenden Gesichter, die ich an diesem Tage, in festlichem Staat, schwanengleich den Mississippi des Broadway hatte hinabsegeln sehen; und ich verglich sie mit dem blassen Schreiber und dachte bei mir: Ach, das Glück huldigt dem Licht, daher glauben wir, die Welt sei heiter; das Elend dagegen hält sich abseits verborgen, daher glauben wir, es sei nicht vorhanden. Diese betrüblichen Phantasien – zweifellos Gespinste eines kranken und törichten Hirns – führten weiter zu anderen und bestimmteren Gedanken, die Bartlebys Verschrobenheiten betrafen. Mich umschwebten Vorahnungen seltsamer Entdeckungen. Die bleiche Gestalt des Schreibers erschien mir aufgebahrt, unter teilnahmslosen Fremden, in ihrem schauernden Leichentuch.

Plötzlich zog mich Bartlebys geschlossenes Pult an; der Schlüssel steckte deutlich sichtbar im Schloß.

Ich habe nichts Böses im Sinn, will keine herzlose Neugier befriedigen, dachte ich; außerdem gehört das Pult mir und ebenfalls sein Inhalt, daher werde ich mir die Freiheit nehmen hineinzusehen. Alles war planmäßig geordnet, die Schriftstücke lagen säuberlich übereinander. Die Fächer waren tief; ich entfernte die Aktenbündel und tastete bis in die hintersten Winkel. Sogleich fühlte ich dort etwas und zog es heraus. Es war ein altes buntes Seidentaschentuch, schwer und zusammengeknotet. Ich öffnete es und sah, daß es eine Sparkasse war.

Nun entsann ich mich all der stillen Geheimnisse, die ich an dem Manne bemerkt hatte. Ich dachte daran, daß er nie sprach, außer um zu antworten; daß ich ihn, obschon er dann und wann ziemlich viel Zeit für sich hatte, nie hatte lesen sehen – nein, nicht einmal eine Zeitung; daß er oft lange an seinem trüben Fenster hinter dem Wandschirm stand und hinaus auf die tote Backsteinmauer sah; ich war ganz sicher, er besuchte nie eine Speisehalle oder ein Gasthaus; und zudem zeigte sein blasses Gesicht deutlich, daß er nie Bier trank wie Turkey oder auch nur Tee und Kaffee wie andere Menschen; daß er, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, nie irgendwo hinging; daß er nie einen Spaziergang machte, es sei denn eben jetzt; daß er es abgelehnt hatte, mir zu sagen, wer er sei oder woher er komme oder ob er irgendwelche Verwandte auf der Welt habe; daß er, wenngleich so mager und blaß, nie über schlechte Gesundheit klagte. Und mehr als an all dies dachte ich an ein gewisses, ihm nicht bewußtes Benehmen von blassem – wie soll ich es nennen? – sagen wir, von blassem Hochmut oder vielmehr an eine abweisende Zurückhaltung an ihm, die mich tatsächlich so eingeschüchtert hatte, daß ich mich seinen Verschrobenheiten willfährig fügte und mich scheute, ihn um die kleinste beiläufige Hilfe zu bitten, selbst wenn ich von seiner lang anhaltenden Regungslosigkeit her wissen konnte, daß er in einer seiner Mauerträumereien hinter seinem Wandschirm stehen mußte.

Als ich all dies bedachte und es mit der eben entdeckten Tatsache, daß er meine Kanzlei zu seinem ständigen Aufenthaltsort und Heim gemacht hatte, in Verbindung brachte und auch seine krankhafte Launenhaftigkeit nicht vergaß – als ich all dies bedachte, geriet ich allmählich in eine nüchterne Stimmung. Zuerst hatte ich reine Schwermut und aufrichtiges Mitleid empfunden; doch im selben Maße, wie Bartlebys Verlassenheit in meiner Phantasie immer größer wurde, ging diese Schwermut in Furcht, das Mitleid in Widerwillen über. Es ist so wahr, und so schrecklich dazu, daß die Vorstellung oder der Anblick des Elends zwar bis zu einem gewissen Grade unsere edelsten Regungen auf den Plan ruft, aber in gewissen besonderen Fällen nicht über diesen Grad hinaus. Wer behaupten wollte, dies sei stets auf die angeborene Selbstsucht des Menschenherzens zurückzuführen, der ist im Irrtum. Es rührt vielmehr von einer gewissen Aussichtslosigkeit her, ein übermäßiges und anlagebedingtes Leiden zu heilen. Ein empfindsames Wesen erlebt Mitleid nicht selten als Schmerz. Und wenn man schließlich erkennt, daß solches Mitleid keine wirksame Hilfe bringen kann, befiehlt der gesunde Menschenverstand der Seele, sich davon zu befreien. Was ich an diesem Morgen sah, überzeugte mich, daß der Schreiber das Opfer einer angeborenen und unheilbaren Krankheit war. Seinem Körper hätte ich Almosen geben können, aber sein Körper schmerzte ihn ja nicht; seine Seele war es, die litt, und seine Seele konnte ich nicht erreichen.

Ich führte an diesem Morgen meine Absicht, zur Trinity Church zu gehen, nicht aus. Was ich gesehen hatte, machte mich für den Augenblick irgendwie untauglich zum Kirchenbesuch. Ich ging nach Hause und dachte nach, was ich mit Bartleby tun sollte. Schließlich faßte ich den folgenden Entschluß: Ich wollte ihm am nächsten Morgen mit ruhiger Stimme ein paar Fragen stellen, die sein früheres Leben &c. betrafen, und wenn er sich weigerte, sie offen und rückhaltlos zu beantworten (er würde wohl sagen, daß er es lieber nicht möchte), dann wollte ich ihm, außer der Summe, die ich ihm noch schuldig sein mochte, eine Zwanzigdollarnote geben und ihm erklären, seiner Dienste nicht länger zu bedürfen; daß ich mich aber freuen würde, wenn ich ihm auf irgendeine andere Weise beistehen könne, daß ich ihm, insbesondere wenn er in seinen Heimatort zurückkehren wolle, einerlei, wo der sein mochte, gerne helfen würde, die Kosten zu bestreiten. Überdies werde er, wenn er nach der Rückkehr in die Heimat irgendwann einmal Hilfe brauche, auf einen Brief bestimmt Antwort erhalten.

Der nächste Morgen kam.

»Bartleby«, sagte ich, indem ich ihn freundlich hinter seinem Wandschirm anrief.

Keine Antwort.

»Bartleby«, sagte ich in einem noch freundlicheren Tone, »kommen Sie her; ich will nichts von Ihnen verlangen, was Sie lieber nicht tun möchten – ich habe nur den Wunsch, mit Ihnen zu sprechen.«

Daraufhin kam er lautlos zum Vorschein.

»Wollen Sie mir sagen, Bartleby, wo Sie geboren sind?«

»Ich möchte lieber nicht.«

»Wollen Sie mir irgend etwas über sich erzählen?«

»Ich möchte lieber nicht.«

»Aber was für einen vernünftigen Grund können Sie haben, nicht mit mir zu sprechen? Ich meine es gut mit Ihnen.«

Er sah mich nicht an, während ich sprach, sondern hielt seinen Blick unverwandt auf meine Cicero-Büste gerichtet, die sich, so wie ich damals saß, gerade hinter mir befand, etwa sechs Zoll über meinem Kopf.

»Wie lautet Ihre Antwort, Bartleby?« sagte ich, nachdem ich eine geraume Weile auf eine Entgegnung gewartet hatte; währenddessen war sein Gesicht unbeweglich geblieben, nur der weiße, verschmälerte Mund zeigte ein kaum wahrnehmbares Zucken.

»Im Augenblick möchte ich keine Antwort geben«, sagte er und zog sich in seine Einsiedelei zurück.

Es war, ich gestehe es, eine Schwäche von mir, doch sein Verhalten bei diesem Anlaß reizte mich. Es schien mir nicht nur eine gewisse gelassene Verachtung darin verborgen zu liegen, sondern seine Verstocktheit kam mir in Anbetracht der unleugbar guten Behandlung und der Nachsicht, die er von mir erfahren hatte, auch undankbar vor.

Wieder saß ich da und grübelte, was ich tun sollte. So gekränkt ich mich wegen seines Benehmens fühlte und so entschlossen ich beim Betreten meiner Kanzlei gewesen war, ihn zu entlassen, spürte ich seltsamerweise trotzdem, wie etwas Abergläubisches an mein Herz pochte und mir verbot, meine Absicht auszuführen, und mich als Schurken verurteilte, wenn ich es wagte, diesem einsamsten aller Menschen auch nur ein hartes Wort zu sagen. Schließlich zog ich vertraulich meinen Stuhl hinter seinen Wandschirm, setzte mich und sagte: »Bartleby, es macht nichts, wenn Sie Ihr früheres Leben nicht offenbaren; aber ich möchte Sie, als Freund, inständig bitten, sich, soweit wie möglich, an die Gepflogenheiten in dieser Kanzlei zu halten. Sagen Sie jetzt nur, daß Sie morgen oder übermorgen helfen wollen, Schriftstücke durchzusehen, kurzum, sagen Sie jetzt nur, daß Sie in ein paar Tagen anfangen wollen, ein bißchen vernünftig zu sein – sagen Sie nur das, Bartleby.«

»Im Augenblick möchte ich lieber nicht ein bißchen vernünftig sein«, war seine sanft leichenhafte Antwort.

Gerade da ging die Flügeltür auf, und Nippers trat heran. Er schien an den Folgen einer ungewöhnlich schlechten Nachtruhe zu leiden, durch eine schwerere Verdauungsstörung als üblich verursacht. Die letzten Worte Bartlebys hörte er mit.

»Möchte lieber nicht, wie?« knirschte Nippers – »ich an Ihrer Stelle würde ihn lieber mögen, Sir«, wandte er sich an mich – »ich würde ihn lieber mögen; ich würde ihm mein Liebermögen zeigen, dem störrischen Esel! Bitte, Sir, was ist es, was er jetzt lieber nicht möchte

Bartleby rührte sich nicht.

»Mr.