Christian Wahnschaffe

Wassermann, Jakob

Christian Wahnschaffe

 

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Jakob Wassermann

Christian Wahnschaffe

Roman in zwei Bänden

 

 

Erster Band:

Eva

 

Crammon ohne Furcht und Tadel

 

1

Crammon, ein Wanderer auf Wegen des Behagens und Vergnügens, war seit seinen Jünglingsjahren beständig unterwegs, von einer Hauptstadt Europas zur andern, von einem Landsitz seiner Freunde zum andern.

Er stammte aus einem österreichischen Geschlecht, das in Mähren begütert war. Mit seinem vollen Namen hieß er Bernhard Gervasius Crammon von Weißenfels.

In Wien besaß er ein schön eingerichtetes kleines Haus. Zwei ehelose alte Damen betreuten es, Fräulein Aglaja und Fräulein Konstantine. Es waren entfernte Verwandte von ihm, aber er hing an ihnen, wie an leiblichen Schwestern. Sie ihrerseits liebten ihn mit nicht geringerer Zärtlichkeit.

Eines Nachmittags im Mai saßen sie beide am offenen Fenster und blickten sehnsüchtig die Straße hinab. Er hatte seine Ankunft brieflich gemeldet, und es war schon der vierte Tag, daß sie ihn vergeblich erwarteten. Sooft ein Wagen um die Ecke bog, streckten sie gleichzeitig die Hälse über das Sims.

Als es dämmerte, schlossen sie das Fenster und seufzten. Konstantine faßte Aglaja unter den Arm, und so gingen sie durch die geschmückten Räume, die in blinkende Bereitschaft gesetzt waren.

Sie betrachteten sinnend die Gegenstände, die an ihn gemahnten und von denen ihm jeder einzelne teuer war, weil ihn ein Erlebnis oder eine Erinnerung damit verband.

Da war der ziselierte Pokal aus dem fünfzehnten Jahrhundert, den ihm der Marquis d'Autichamps geschenkt hatte; da die Achatschale, Vermächtnis der Gräfin Ortenburg; da waren die farbigen Kupferstiche aus dem Nachlaß der Herzogin von Kingsborough; da die kostbare Schreibtischgarnitur, die er vom alten Baron Regamey bekommen; da die Tanagrafigürchen, die ihm Felix Imhof aus Griechenland mitgebracht, da sein Porträt, welches der englische Maler Lavery im Auftrag von Sir Macnamara angefertigt hatte.

Sie kannten diese Dinge genau und schätzten sie. Vor dem Bildnis blieben sie stehen, wie sie gern zu tun pflegten.

Es zeigte ein vollwangiges Gesicht von einigermaßen strengem, ja finsterm Ausdruck. Aber der Ausdruck mußte täuschen, denn um die glattrasierten Lippen zuckten verräterische Lichter von Weltlust, Spott und Schelmerei.

Am Abend erhielten die beiden Damen ein Telegramm des Inhalts, daß Crammon die geplante Heimreise um vier Wochen verschieben müsse. Sie zündeten kein Licht mehr an und gingen traurig zu Bett.

 

2

 

Es geschah, daß Crammon mit einigen Freunden in Baden-Baden soupierte. Da er aus Schottland kam, wo er bei dem berühmten Forellenfischer Macpherson gewesen war und eine lange Eisenbahnfahrt hinter sich hatte, legte er sich nach dem Essen ermüdet auf ein Sofa und schlief ein.

Die Freunde unterhielten sich eine Weile, bis Crammons lautes Schnarchen ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkte; sie beschlossen, sich einen Scherz mit ihm zu machen.

Einer ging hin, rüttelte den Schläfer an der Schulter und fragte, als Crammon die Augen aufschlug: »Sag mal, Bernhard, was ist eigentlich mit Lord James Darlington los? Wo ist er? Warum hört man nichts von ihm?«

Crammon, ohne sich eine Sekunde zu besinnen, antwortete mit klarer Stimme und feierlichem Ernst: »Lord James befindet sich auf seiner Jacht im Ligurischen Meerbusen, zwischen Livorno und Nizza. Wieviel Uhr habt ihr? Drei Uhr nachts – da nimmt er die nervenberuhigenden Pulver, die ihm der Doktor Magliano, sein italienischer Arzt, zubereitet und verordnet hat.«

Damit legte er sich auf die andre Seite und schlief weiter.

»Er flunkert,« sagte einer aus der Gesellschaft, der Crammon nur oberflächlich kannte. Die andern erklärten dem Zweifler, daß Crammon niemals flunkere, und sie sprachen leise, um den Schlummernden nicht zu stören.

 

3

 

Einmal war Crammon auf einem Gut in Ungarn als Gast und verabredete sich mit mehreren jungen Leuten, die auf einem andern Gut weilten, zu einem Gelage in der nahegelegenen Stadt. Der Morgen graute, als sie auseinandergingen; mit benommenem Sinn schritt Crammon allein dahin und sehnte sich nach dem Bett, das noch eine halbe Stunde Wegs von ihm entfernt war. Zufällig geriet er auf den Viehmarkt, wo eine Menge Bauern versammelt waren, die ihre Ochsen, Kühe und Kälber aus den Dörfern hereingetrieben hatten.

Im Gewühle mußte er stehenbleiben und hörte, wie ein Stier zum Verkauf ausgeboten wurde. »Fünfzig Kronen zum ersten!« rief der Auktionar, und die Bauern schwiegen und überlegten.

Fünfzig Kronen für einen ganzen Stier? Nicht übel, dachte Crammon in seiner Halbtrunkenheit und bot sogleich fünf Kronen mehr. Die Bauern machten ihm respektvoll Platz, einer schlug noch um eine Krone auf, er überbot um zwei Kronen, zum ersten, zum zweiten, zum dritten, niemand bot höher, der Stier wurde Crammon zugesprochen.

Ein stattliches Vieh, sagte er sich und war mit seinem Kauf zufrieden.

Als es aber zum Zahlen kam, erfuhr er, daß die achtundfünfzig Kronen der Preis für den Zentner waren, und da das Tier zwölfeinhalb Zentner wog, sollte er siebenhundertfünfundzwanzig Kronen erlegen.

Er weigerte sich und schimpfte; es entstand ein Geschrei, kein Einspruch half, der Stier war sein Eigentum. Da er nicht Geld genug bei sich hatte, mußte er einen Knecht mieten, der ihn mit dem erhandelten Vieh auf das Gut begleitete.

Er schritt verdrossen voran, dann folgte der Knecht, der wieder an einem Strick das Vieh hinter sich her zog, das bösartig bockte.

Der Gutsherr, sein Gastfreund, half ihm aus der Verlegenheit und kaufte ihm den Stier ab, wurde aber vor Lachen über die Geschichte beinahe krank.

 

4

 

Crammon liebte das Theater und alles, was mit dem Theater zusammenhing. Als die große Wolter starb, schloß er sich acht Tage lang in seinem Hause ein und trauerte wie über einen persönlichen Verlust.

Während eines Aufenthaltes in Berlin drang der junge Ruhm Edgar Lorms zu ihm. Er sah ihn als Hamlet, und als er das Theater verließ, umarmte er auf der Straße einen wildfremden Mann und rief: »Ich bin glücklich.« Es entstand ein kleiner Zusammenlauf von Menschen.

Er hatte drei Tage in Berlin bleiben gewollt und blieb drei Monate. Seine Beziehungen machten es ihm leicht, Edgar Lorm kennenzulernen. Er überhäufte ihn mit Geschenken, kostbaren Dosen, schönen Büchern und seltenen Leckerbissen.

Jeden Morgen, wenn sich Edgar Lorm vom Schlaf erhob, fand sich Crammon ein und schaute still versunken zu, wie sich der Schauspieler wusch, rasierte und seine Leibesübungen machte. Er bewunderte seinen schlanken Wuchs, seine edlen Gebärden, seine sprechende Mimik und die Vollkommenheit seiner Stimme.

Er schrieb Briefe für ihn, fertigte Agenten ab und hielt ihm lästige Verehrer und Verehrerinnen vom Hals. Er stellte Zeitungskritiker zur Rede und schleuderte im Theater giftige Blicke, wenn der Beifall nach seiner Meinung zu lau war. »Das Pack hat zu rasen,« sagte er, und bei der Szene in Richard dem Zweiten, wo der König von den Mauern der Burg herunter zu den Lords spricht, besonders bei der Stelle: Herab, herab komm' ich wie Phaeton, geriet er in solchen Enthusiasmus, daß seine Freundin, die Prinzessin Uchnina, die mit ihm in der Loge saß, ihren Fächer vor das Gesicht hielt, um sich den Augen des Publikums zu entziehen.

Für ihn war Lorm der königliche Richard, der schwermütige Hamlet, der liebende Romeo und Fiesko der Rebell. Er glaubte dem Schauspieler, ganz und gar; er nahm ihn wörtlich, ganz und gar. Er erfüllte ihn mit dem Geiste Beaumarchais', mit der Beredsamkeit des Mark Anton, mit dem Sarkasmus Mephistos und mit der Dämonie Franz Moors. Als er sich von ihm trennen mußte, verbarg er seinen Kummer nicht, und aus der Ferne schrieb er ihm von Zeit zu Zeit eine überschwengliche Epistel.

Der Schauspieler nahm diese Anbetung als einen Tribut entgegen, der sich von den Durchschnittshuldigungen, von denen er satt zu werden begann, wesentlich unterschied.

 

5

 

Lola Hesekiel, die gefeierte Schönheit, hatte Crammon ihr Glück zu verdanken. Crammon hatte sie erzogen, Crammon hatte ihr Platz und Anerkennung in der Welt verschafft.

Als sie noch ein unerhebliches kleines Mädchen war, machte Crammon mit ihr eine Reise nach Sylt.