Ihr Kindesherz hatte sich mit der Sorge gequält, daß denen da drüben nur wieder wohl werden könne, wenn sie bei ihnen sei, ihnen die tödtliche Einsamkeit tragen zu helfen, und nur nach und nach habe sich das verloren, und es sei ihr besser und leichter geworden. Jetzt freilich lache sie über den tollen Traum.

Noch eine Person darf ich hier nicht unerwähnt lassen, die zu dem Hausstande, ja, eigentlich fast zur Familie des Doctors gehörte, wenn dieser auch den Mann mehr als Diener, wie Freund, und manchmal gütig, meist aber hart und abstoßend, ja, fast despotisch behandelte.

Es war dies der Famulus des Doctor Hetzelhofer, der hier jedenfalls eine nähere Beschreibung verdient.

Schwiebus, wie er kurzweg im Hause genannt wurde, war eine lange, magere Gestalt mit vorstehenden Backenknochen und tiefliegenden, aber lebendigen grauen Augen. Die dünnen, etwas röthlichen Haare hielt er sorgfältig von beiden Schläfen nach der Stirn hinauf gekämmt, den dort eben nicht mehr zu verdeckenden Mangel so viel als möglich wenigstens zu beschönigen, und sein Gesicht war in eine solche Unzahl kleiner, die Kreuz und Quer laufender Falten gelegt, daß man wirklich nicht daraus klug wurde, ob das Alter oder vielleicht eine blatterähnliche Krankheit solche Spuren in seine Haut gegraben. Je länger man ihn darauf ansah, desto verwirrter wurde man. Während daher die Einen den langen wunderlichen Burschen mit dem unbeholfenen Namen für einen noch jungen, vielleicht durch zu eifrige Studien aufgeriebenen Mann hielten, der unter des berühmten Doctors Leitung seine Kenntnisse vermehren wolle, schworen die Anderen, daß Glatze und Falten wirklich dem Alter angehörten. Diese hielten den Eigner derselben dann für einen hohen Fünfziger, ja, vielleicht Sechziger, der, von dem leichtfertigen Götterkind Fortuna übersehen, ein Menschenalter umsonst hinter ihrem Wagen hergekeucht war, und es jetzt endlich aufgegeben hatte, sie einzuholen.

Seine Hautfarbe, das fahle Gelb seiner Züge, schien diese letztere Ansicht auch besonders zu bestätigen und das Urtheil der Hellburger zu rechtfertigen, die bald darüber einig waren, daß er gerade so aussähe, als ob er schon einmal im Grabe gelegen hätte. So böse er selber aber wurde, und so sehr der Doctor Hetzelhofer darüber lachte, wenn in seiner Gegenwart eine solche Bemerkung laut wurde, ließ sich der Gedanke, wenn einmal gefaßt, doch nicht wieder los werden. Wer nur dem dürren, hageren Menschen in's Antlitz sah, dessen Augen dann nicht selten eine ordentlich grüne, gläserne Färbung annahmen, fühlte ein eigenes, unbestimmtes Grauen, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte, und verschiedene alte, würdige Damen hätten eben so gern in der Gesellschaft des anerkannten Gott sei bei uns, als in der seinigen eine Stunde allein zubringen mögen. Bei einer solchen Persönlichkeit ist die böse Welt aber auch rasch mit einem Spitznamen fertig, und Schwiebus hieß bald in der ganzen Stadt »der todte Famulus.«

Wunderlicher Weise war Schwiebus dabei in jeder anderen Beziehung der freundlichste, gemüthlichste und gefälligste Mensch von der Welt, der besonders gern mit Kindern umging, mit ihnen spielte, wo er sich nur eine Viertelstunde Zeit abgewinnen konnte, und diese bald an sich fesselte. Dabei besaß er ein merkwürdiges Talent, Geschichten, vorzüglich Gespenster-Geschichten, zu erzählen. Der Doctor hatte ihm das freilich streng untersagt, denn er machte die Kleinen oft so furchtsam, daß sie nicht mehr allein über die Straße gehen wollten; aber es gehörte nun einmal mit zu seinen Leidenschaften, denen er, wo das irgend anging, den Zügel schießen ließ. Die Kinder rissen sich deßhalb auch bald um seine Gesellschaft, trotz seinem sonst nichts weniger als einnehmenden Aeußeren, und wo es nur irgend anging, wurden Gespenster- und Geister-Geschichten, unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit, von dem einen Theile so gern erzählt, wie von dem anderen gierig angehört.

Auch in kleinen mechanischen Arbeiten war er geschickt und erfahren. Er drehte Kreisel, die beim Spiel verschiedene Töne von sich gaben; schnitzte Männer, die sich von selbst überschlugen; machte Bälle, die, wenn man sie hoch in die Luft warf, zu kleinen Ballons wurden und davon flogen, und tausend andere derartige Dinge. Ganze Nächte mußte er zu solcher Arbeit verwenden, wo hätte er sonst die Zeit hergenommen! In seinem Zimmer brannte auch in der That fast jede Nacht hindurch Licht, und die Nachbarn, die von ihren Fenstern aus das seinige beobachten konnten, zerbrachen sich die Köpfe darüber, in welcher Zeit der »todte Famulus« eigentlich schlafe. Waren sie auch um zwei oder drei Uhr erst zu Bett gegangen, wo sie noch Licht in seinem Zimmer und den Schatten an den niedergelassenen Gardinen konnten herüber und hinüber gehen sehen, so war Schwiebus doch jedenfalls am nächsten Morgen schon vor ihnen wieder munter. Wenn sie gleich mit Tagesgrauen aufstanden, lag er sicher schon im geöffneten Fenster und rauchte seine Cigarre, oder unterhielt sich mit einem großen abgerichteten Raben, der in seinem Fenster einen geräumigen, aber offenen Bauer hatte – an Schlafen dachte er gar nicht.

Auch der Rabe gehörte mit zu der Person des »todten Famulus,« und die Leute im Hause versicherten, daß er das kluge Thier fast wie einen Menschen behandle und sich oft halbe Stunden lang mit ihm ordentlich unterhalte.

Solch ein Wesen war der Famulus Schwiebus, und es läßt sich denken, daß er dem kleinen Hellburg auf lange Zeit höchst interessanten Stoff zur Unterhaltung gab. Bier- wie Kaffee-Gesellschaften beschäftigten sich im Anfange wirklich nur mit ihm und dem Doctor, der durch einige fabelhafte Curen ebenfalls einen großen Ruf erlangt hatte. Es gab auch in der That bald nichts Natürliches wie Uebernatürliches mehr, das man den beiden Menschen nicht zugeschrieben hätte, und eine Zeit lang machten sogar ein Paar haarsträubende Geschichten die Runde, in welche die Fremden auf das Engste verwickelt waren. Nur erst als beide Charaktere so still und spießbürgerlich wie sie selber in ihrer Mitte fortlebten und sich keines von all den ausgesprengten Gerüchten bestätigte, erkaltete nach und nach die Neugierde der Nachbarn. Der Reiz der Neuheit war dem Ganzen überhaupt schon genommen, und noch ehe das erste Jahr ganz verflossen war, ließ man die Beiden still und ungehindert ihre Wege gehen. Man hatte sich an sie gewöhnt und sie gehörten mit zu Hellburg. 

   

Kapitel 4

Helene kam selten zu Hechner's hinüber, da während des Doctors öfterer Abwesenheit doch Jemand zu Hause bleiben mußte, anfragenden Kranken Auskunft zu geben, und man sich auf den Dienstboten nicht verlassen mochte. Marie ging dafür desto häufiger hinüber, und hatte auch heute wieder einmal von der Mutter Erlaubniß erhalten, ihrer älteren Freundin Gesellschaft zu leisten, während der Doctor Hetzelhofer nach einem schwer Kranken über Land gerufen war und erst spät in der Nacht zurück erwartet wurde.

Heute war übrigens in Hellburg der Tag bestimmt worden, an welchem der Proceß wegen der Quetzlinberger'schen Erbschaft durch friedliches und freundschaftliches Zusammenkommen der präsumtiven Erben in Güte und nach gemeinschaftlichem Uebereinkommen entschieden werden sollte. Marie hatte das von ihrem Oheim, dem Advocaten Hechner, gehört, und der erste März des laufenden Jahres war dazu gewählt worden.

Natürlich kam aber dadurch das Gespräch auch wieder, was seit langer Zeit nicht der Fall gewesen, auf das alte Haus und die Folgen, die der Endentscheid auf das Geheimniß desselben ausüben müsse. Dann wurden ja auch die Siegel von der Thür gelöst, und die öden Zimmer, die den größten Theil eines Jahrhunderts das Stadtgespräch in Hellburg gebildet, wurden den Blicken einer fremden Generation erschlossen.

»Ich gäbe was drum,« sagte Marie endlich, nachdem die beiden Mädchen eine Weile schweigend ihren Gedanken nachgehangen hatten – »ich gäbe was drum, wenn ich die alten Räume betreten dürfte, ehe noch ein anderer Fuß den Zauber jenes unserer Zeit gar nicht mehr angehörenden Gebäudes gebrochen. Es muß gar so wunderlich sein, die dumpfige Luft da drinnen zu athmen, und den Klang der eigenen Schritte zu hören, den die Wände so lange, lange Jahre nicht zurück gegeben haben.«

»Und Du vor allen Anderen würdest Bescheid dann, wissen,« lächelte Helene; »denn so viel ich mich erinnere, bist Du die Einzige, die jene Ruine betreten hat, seit damals die Gerichte die dicken Siegel auf den Eingang drückten.«

»Aber nur im Traum,« lachte Marie.

»Was thut's! wenn der Traum nur getreu war, fändest Du Dich überall zurecht.«

»Es ist und bleibt doch immer eine merkwürdige Sache mit solchen Träumen,« sagte Marie, wieder nach einer längeren Pause, indem sie den Kopf schüttelte und sinnend dabei vor sich nieder sah, »und damals hätte ich meiner Seele Heil daran setzen wollen, daß es Wahrheit gewesen. Die Personen standen ja noch Wochen lang nachher oft so deutlich vor mir, als ob sie wirklich lebten.«

»Eigentlich ist es schade,« lächelte Helene, »daß solche Sachen nicht geschehen, und die prosaische Welt uns nur immer platte, nüchterne Wirklichkeit in Allem bietet, was uns selbst betrifft. Es mag kindisch sein, aber wie oft habe ich mir schon gewünscht, einmal einen Geist zu sehen! und doch will es nie geschehen. Und können trotzdem die Vernünftigsten von uns jeden Bezug mit einer geistigen, von uns unbegriffenen Welt abläugnen? Glauben sie nicht, sie mögen sich dagegen sträuben, so viel sie wollen, an Ahnungen, an Magnetismus, an Somnambulismus, und wie jene geheimen Bindemittel zwischen Luft und Erde alle heißen?« »Ganz kann ich mich auch der Gedanken noch nicht entschlagen,« lächelte Marie, »und manchmal kommen Zeiten – wie heute z.B. wieder, wo ich von dem alten Hause so plötzlich reden hörte, – wo es mir wieder vorkommt, als ob es doch am Ende kein Traum gewesen und ich den wunderlichen Menschen wirklich einmal begegnet sei. Aehnlichkeiten mit ihnen hab' ich auch in der That schon mehrere Male gefunden, und das Herz hat mir dann ordentlich ängstlich geklopft, daß mir der Traum nun plötzlich in's Leben treten solle – bis ich mich selber besann und mich meiner kindischen Furcht, meines Aberglaubens wegen schämte.«

»Aber Du hast mir dabei immer von einer Frau Bause erzählt, Marie,« sagte Helene – »sie soll ja hier in der Stadt wohnen.