Das Falsche Gewicht
Joseph Roth
Das
falsche Gewicht

© 2010 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,
Hamburg
Alle Rechte, auch das der fotomechanischen Wiedergabe
(einschließlich Fotokopie) oder der Speicherung auf
elektronischen Systemen, vorbehalten.
All rights reserved.
Layout & Satz: BuchBetrieb Peggy Stelling, Leipzig
Titelabbildung: Cinetext Bildarchiv
Covergestaltung: Timon Schlichenmaier, Hamburg
ISBN: 978-3-86820-999-0
www.nikol-verlag.de
I
Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hieß Anselm Eibenschütz. Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen. In bestimmten Zeiträumen geht Eibenschütz also von einem Laden zum andern und untersucht die Ellen und die Waagen und die Gewichte. Es begleitet ihn ein Wachtmeister der Gendarmerie in voller Rüstung. Dadurch gibt der Staat zu erkennen, daß er mit Waffen, wenn es nötig werden sollte, die Fälscher zu strafen bedacht ist, jenem Gebot getreu, das in der Heiligen Schrift verkündet wird und dem zufolge ein Fälscher gleich ist einem Räuber …
Was nun Zlotogrod betrifft, so war dieser Bezirk ziemlich ausgedehnt. Er umfaßte vier größere Dörfer, zwei bedeutende Marktweiler und schließlich das Städtchen Zlotogrod selbst.
Der Eichmeister benützte für seine Dienstwege ein ärarisches, einspänniges, zweiräderiges Wägelchen, samt einem Schimmel, für dessen Erhaltung Eibenschütz selbst aufzukommen hatte.
Der Schimmel besaß noch ein ansehnliches Temperament. Er hatte drei Jahre beim Train gedient und war nur infolge einer plötzlichen Erblindung am linken Auge, deren Ursache auch der Veterinär nicht erklären konnte, dem Zivildienst überstellt worden. Es war immerhin ein stattlicher Schimmel, vorgespannt einem hurtigen goldgelben Wägelchen. Darin saß an manchen Tagen neben dem Eichmeister Eibenschütz der Wachtmeister der Gendarmerie Wenzel Slama. Auf seinem sandgelben Helm glänzten die goldene Pickel und der kaiserliche Doppeladler. Zwischen seinen Knien ragte das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett empor. Zügel und Peitsche hielt der Eichmeister in der Hand. Sein blonder und weicher, mit Sorgfalt emporgewichster Schnurrbart schimmerte ebenso golden wie Doppeladler und Pickelhaube. Aus dem gleichen Material schien er gemacht. Von Zeit zu Zeit knallte fröhlich die Peitsche, und es war, als lachte sie geradezu. Der Schimmel galoppierte dahin, mit ehrgeiziger Eleganz und mit dem Elan eines aktiven Kavalleriepferdes. Und an heißen Sommertagen, wenn die Straßen und Wege des Bezirkes Zlotogrod ganz trocken und beinahe durstig waren, erhob sich ein gewaltiger, graugoldener Staubwirbel und hüllte den Schimmel, das Wägelchen, den Wachtmeister und den Eichmeister ein. Im Winter aber stand dem Anselm Eibenschütz ein kleiner, zweisitziger Schlitten zur Verfügung. Der Schimmel hatte den gleichen eleganten Galopp, Sommer wie Winter. Kein graugoldener mehr, sondern ein silberner, ein Schneewirbel hüllte den Wachtmeister, den Eichmeister, den Schlitten in Unsichtbarkeit, und den Schimmel erst recht, da er fast so weiß war wie der Schnee.
Anselm Eibenschütz, unser Eichmeister, war ein sehr stattlicher Mann. Er war ein alter Soldat. Er hatte seine zwölf Jahre als längerdienender Unteroffizier beim Elften Artillerieregiment verbracht. Er hatte, wie man zu sagen pflegt, von der Pike auf gedient. Er war ein redlicher Soldat gewesen. Und er hätte niemals das Militär verlassen, wenn ihn nicht seine Frau in ihrer strengen, ja unerbittlichen Weise dazu gezwungen hätte.
Er hatte geheiratet, wie es fast alle längerdienenden Unteroffiziere zu tun pflegen. Ach, sie sind einsam, die längerdienenden Unteroffiziere! Nur Männer sehen sie, lauter Männer! Die Frauen, denen sie begegnen, huschen an ihnen vorbei wie Schwalben. Sie heiraten, die Unteroffiziere, sozusagen um wenigstens eine einzige Schwalbe zu behalten. Also hatte auch der längerdienende Feuerwerker Eibenschütz geheiratet, eine gleichgültige Frau, wie jeder hätte sehen können. Es tat ihm so leid, seine Uniform zu verlassen.
1 comment