Die Treppe, über die sie hinunterstieg, lief seitwärts neben der Theke. Sie bahnte sich einen Weg durch das lärmende Gewimmel der Deserteure. Das heißt, der Weg bahnte sich eigentlich vor ihr selbst. Am äußersten Ende des Schankraums neben dem Fenster, der Treppe gegenüber, saß der Eichmeister Eibenschütz. Er erblickte die Frau, als sie auf der ersten Stufe der Treppe stand. Und sofort wußte er, sie würde zu ihm kommen. Er hatte sie nie gesehen. Im ersten Augenblick schon, da er sie auf der obersten Treppenstufe gesehen hatte, verspürte er eine Trockenheit in der Kehle, dermaßen, daß er nach dem Glas Met griff und es in einem Zuge austrank. Es dauerte ein paar Minuten, bevor die Frau an seinen Tisch gelangte. Die betrunkenen Deserteure wichen vor ihrem zarten Schritt auseinander. Dünn, schlank, schmal, einen zarten weißen Schal um die Schultern, den sie mit den Händen festhielt, als ob sie fröre und als ob dieser Schal sie wärmen könnte, ging sie sicher, mit wiegenden Hüften und straffen Schultern. Ihre Schritte waren fest und zierlich. Man hörte das leise Aufschlagen ihrer hohen Stöckel einen Augenblick lang, während die lärmenden Männer verstummten und die Frau anstarrten. Ihr Blick war gleich, von der obersten Stufe an, auf den Eichmeister Eibenschütz gerichtet, als schritte ihr Auge ihren Füßen voraus.

Als sie auf ihn zutrat, war es ihm, als erführe er zum erstenmal, was ein Weib sei. Ihre tiefblauen Augen erinnerten ihn, der niemals das Meer gesehen hatte, an das Meer. Ihr weißes Angesicht erweckte in ihm, der den Schnee sehr gut kannte, die Vorstellung von irgendeinem phantastischen, unirdischen Schnee, und ihr dunkelblaues, schwarzes Haar ließ ihn an südliche Nächte denken, die er niemals gesehen, von denen er vielleicht einmal gelesen oder gehört hatte. Als sie sich ihm gegenüber niedersetzte, war es ihm, als erlebte er ein großes Wunder; als setzten sich das unbekannte Meer, ein merkwürdiger Schnee, eine seltsame Nacht an seinen Tisch. Er erhob sich nicht einmal. Er wußte wohl, daß man vor Frauen aufsteht; aber er erhob sich nicht vor einem Wunder.

Dennoch wußte er, daß dieses Wunder ein Mensch war, eine Frau, und er wußte auch, daß es die Freundin des Leibusch Jadlowker war. Natürlich hatte auch Eibenschütz alle Geschichten von der Freundin Jadlowkers gehört. Er hatte nie in seinem Leben eine bestimmte Vorstellung von dem gehabt, was man »die Sünde« nennt, aber jetzt glaubte er, er wüßte, wie die Sünde aussehe. So sah sie aus, genau so wie die Freundin Jadlowkers, die Zigeunerin Euphemia Nikitsch.

»Euphemia Nikitsch«, sagte sie einfach und setzte sich und spreizte ihren vielfach gefältelten Rock. Er knisterte leise und eindringlich, durch den Lärm der Deserteure.

»Sie trinken nichts?« fragte sie, obwohl sie das frisch geleerte Metglas vor Anselm Eibenschütz stehen sah.

Er hörte gar nicht ihre Frage. Er starrte sie an, mit großen, offenen Augen, und dachte, daß er eigentlich zum erstenmal die Augen wirklich geöffnet hatte.

»Sie trinken nichts?« fragte sie noch einmal, aber es war jetzt, als wüßte sie schon, daß Eibenschütz keine Antwort geben könne. Deshalb schnalzte sie kräftig und knallend mit den Fingern. Onufrij kam, der Hausknecht. Sie befahl eine Flasche.

Er brachte eine Flasche Neunziggrädigen und eine neue Schüssel trockener Erbsen. Der Eichmeister Eibenschütz trank, aber nicht, weil es ihn danach gelüstete! Keineswegs! Er trank nur, weil er seit den paar Minuten, in denen die Frau dasaß, vergeblich nach einem passenden Wort suchte und weil er hoffte, das Wort würde ihm kommen, wenn er nur tränke. Er trank also, und es brannte gewaltig in seiner Kehle, und er aß daraufhin noch die gesalzenen Erbsen, die das Brennen noch verstärkten. Vor ihm saß indessen die Frau, unbeweglich.