Das treibende Gewölk am Himmel, der umschleierte Mond mahnten Pavel an die Winternacht, in welcher er ausgezogen war, Milada aus der Gefangenschaft zu befreien.
Was für ein Narr war er damals gewesen – was für ein Narr geblieben bis auf den heutigen Tag...
Von dem einzigen, der ihn nie beschimpft, dem einzigen, der ihm je eine Wohltat erwiesen, hatte er sich in blödsinnigem Mißtrauen abgewendet und war der Betrügerin unterwürfig gewesen, die ihn zum besten hatte, ihn bestahl und verlachte... Oh – ganz gewiß verlachte und verspottete! Sie spottete so gern, die Vinska, und so leicht bei viel geringeren Veranlassungen, als seine grenzenlose Dummheit eine war.
Was tu ich ihr? fragte er sich plötzlich und antwortete auch sogleich: Ich schlag sie tot.
Keine Überlegung: was dann? Nicht die geringste Angst, nicht der kleinste Skrupel, nicht einmal ein Zweifel an der Ausführbarkeit seines rasch gefaßten Vorsatzes.
Er stand auf, öffnete leise die Tür, holte den Knüttel Virgils vom Herde und legte ihn neben sich, nachdem er seinen früheren Platz und seine frühere Stellung wieder eingenommen hatte.
Nun kam eine große Ruhe über ihn; die Augen fielen ihm zu, und er schlief ein. Nicht tief, so halb und halb, wie er zu schlafen pflegte, wenn er die Nacht mit den Pferden draußen auf der Hutweide zubrachte.
Der Morgen dämmerte, als leichte Schritte, die sich näherten, ihn weckten. Sie war's. Heiter, bequem und friedlich mit ihrer unschuldig-pfiffigen Miene kam sie einher, zögerte ein wenig, als sie Pavel daliegen sah, betrat dann ganz sachte die Stufen und beugte sich, um ihn zur Seite zu schieben. – Da packte er Sie am Fuß und riß sie zu Boden. Sie fiel ohne einen Laut, erhob sich aber sogleich auf die Knie, während er nach dem Knüttel griff... Ein Blick in des Jungen Gesicht, und aus dem ihrigen wich alles Blut.
»Pavel«, stammelte sie, »was fällt dir ein – du wirst mich doch nicht schlagen?«
Sie stemmte beide Arme gegen seine Brust und sah angstvoll und bebend zu ihm empor.
»Schlagen nicht – erschlagen werd ich dich«, antwortete er dumpf und wandte den Kopf, um ihren flehenden Augen auszuweichen. »Aber zieh zuvor meine Stiefel aus.«
»Jesus Maria! wegen der Stiefel willst mich umbringen?«
»Ja, ich will.«
»Schrei nicht so... die Alten wachen auf.« – »Alles eins.«
Sie schmiegte sich an ihn, ein schüchternes Lächeln umzuckte ihre Lippen. »Sie kommen mir zu Hilfe, wie kannst mich dann totschlagen? Geh – sei still, sei gut.«
Er suchte sich von ihrer Umarmung loszumachen, die ihn beseligte und empörte; er fühlte, mit Zorn gegen sich, den Zorn gegen sie unter ihren Liebkosungen schwinden. »Spitzbübin!« rief er.
»Mach keinen Lärm«, mahnte sie; »wenn die Leute zusammenlaufen, was hast du davon? Sei still! Schlag mich tot meinetwegen, aber sei still – schlag mich tot, du dummer Pavel –« und nun kicherte sie schon völlig vergnügt und siegesgewiß.
Zwischen den wirren Haaren, die ihm über die Augen hingen, schoß ein Blitz voll düsterer Glut hervor, der sie von neuem schaudern machte. – Das war kein törichter Junge mehr, es war ein frühreifer Mann, der sie angeblickt hatte, und instinktmäßig rettete sie sich in der Furcht vor ihm – an seine Brust.
»Tu mir nichts! Wie leid wäre dir!«
Sie stand neben ihm und hielt seine Hand, der der Knüttel entsunken war. Sie bat, sie schmeichelte, sie suchte ihn zu rühren und hielt sich selbst eine Totenklage. »O wie leid wäre dir um mich, niemandem so leid wie dir um die arme Vinska.«
»Du bist nicht arm!« fuhr er sie an, »du nicht! ... Schlecht bist du – und ich geh aufs Bezirksamt und verklag dich.«
»Wegen der Stiefel?« fragte sie und lachte herzlich und sorglos.
»Ja.«
Flugs ließ Vinska sich auf die Stufen nieder, zog die Stiefel aus und stellte dieselben vor Pavel hin. »Da hast sie, Geizhals! Ich brauch sie nicht! – ich brauch nur dem Peter ein Wort zu sagen, so kauft er mir andere, viel schönere.«
Pavel brüllte förmlich auf: »Nein, nein! nimm die meinen, behalt sie, ich schenk sie dir. Nur geh nicht mehr mit dem Peter... Versprich's!« Er faßte sie an den Achseln und schüttelte sie, daß ihr Hören und Sehen verging: »Versprich's, versprich's!«
»Sei ruhig – ich verspreche es«, antwortete Vinska; doch war der Ton, in dem sie es sagte, so wenig überzeugend, und es flog ein so seltsamer Ausdruck über ihr Gesicht, daß Pavel die Faust ballend drohte: »Nimm dich in acht!«
6
Die nächste Woche brachte viele Regentage, und an jedem trüben Morgen packte Pavel seine Schulsachen zusammen und ging zum Gelächter aller, die ihm auf dem Wege dahin begegneten, in die Schule. Dort saß er, der einzige seines Alters, unter lauter Kindern und immer auf demselben Platz, dem letzten auf der letzten Bank. Anfangs tat der Lehrer, als ob er ihn nicht bemerke; erst nach längerer Zeit begann er wieder, sich mit ihm zu beschäftigen. Einmal, als die Stunde beendet war, die Stube sich geleert hatte, Pavel aber fortzugehen zögerte, fragte ihn der Lehrer: »Was willst du eigentlich? In deinem Beruf kannst du dich bei mir nicht ausbilden.«
Pavel machte verwunderte Augen, und der Lehrer fuhr fort: »Hast du mir nicht gesagt, daß du ein Dieb werden willst? Nun, Unglücksbub – Unterricht im Stehlen geb ich nicht.«
Dem Pavel schwebte schon die Antwort auf der Zunge: Darum ist mir's auch nicht zu tun, versteh's ohnehin. Aber er bezwang sich und sagte nur: »Lesen und schreiben möcht ich lernen.«
»Zur Not kannst du's ja.«
»Just zur Not kann ich's nicht.«
»Mußt dir halt Müh gehen.«
»Geb mir Müh, kann's doch nicht.«
»Gib dein Buch her.«
Pavel schüttelte den Kopf: »Aus dem Buch kann ich's schon, aber da –« er fuhr mit der Hand, die heftig zitterte, zwischen sein Hemd und seine Brust und zog einen zerknitterten Brief hervor, »da hat mir der Bote etwas von der Post gebracht...«
»Geschriebenes? Ja so! das ist freilich eine andere Sache, da würde ich wohl selber Mühe haben.«
Sein Scherz reute ihn, als Pavel denselben für Ernst nahm und zum ersten Male im Leben demütig sprach: »Ich möcht den Herrn Lehrer doch bitten, daß er's probiert.«
Pavel küßte, wenn man so sagen darf, das Blatt mit den Augen und reichte es dem Alten hin, sorgfältig, ängstlich, wie ein leicht zu beschädigendes Kleinod.
Der Lehrer entfaltete es und überflog die Zeilen: »Es ist ein Brief, Pavel – und weißt du von wem?«
»Er wird von meiner Schwester Milada sein, aus dem Kloster.«
»Nein, er ist nicht von deiner Schwester aus dem Kloster.«
»Nicht?«
»Er ist von deiner Mutter aus dem –« er stockte, und der Bursche ergänzte mit plötzlich veränderter Miene und rauher Stimme: »Aus dem Zuchthaus.«
»Willst du ihn hören?«
Pavel hatte den Kopf sinken lassen und antwortete durch ein stummes Nicken.
Der Lehrer las:
»Mein Sohn Pavel!
Vor drei monat habe ich Meine feder an das papier gesetzt und meiner Tochter Milada einige Parzeilen in das Kloster geschrieben meine Tochter Milada hat sie aber nicht bekommen die Klosterfrauen haben Ihr ihn nicht gegeben sie haben Mir sagen lassen das beste ist wenn sie von der mutter nichts hört so weiß Ich nicht ob Ich recht tu wenn Ich dir schreibe Pavel mein lieber sohn mit der bitte daß du mir antworten sollst ob meine Parzeilen dich und Milada deine liebe schwester in guter gesundheit antreffen was Mich betrifft ich bin gesund und so weit zu frieden in meinem platz.
deine Mutter.
Meine zwei kinder tag und nacht Bete Ich für euch zum Liebengott glaube auch daß meine tochter Milada eine kleine klosterfrau werden wird wenn es die Zeit sein wird und arbeite fleißig hier imhause was mir zurückgelegt wird für meine kinder...
In sechs Jahren mein lieber sohn Pavel werde ich wieder Nachhaus kommen und bitt euch noch daß ihr manchesmal inguten an die Mutter denkt die ärmste auf der welt.«
Die Lettern des Briefes waren steif und ruhig hingemalt, bei der Nachschrift hatte die Hand gezittert; große matte Flecken auf dem Papier verrieten, daß sie unter Tränen geschrieben worden waren. Mit Mühe entzifferte der Vorleser die halbverwischten Züge, und ihn ergriff die Fülle des Leids und der Liebe, die sich in dieser armseligen Kundgebung aussprach.
»Pavel«, sagte er, »du mußt deiner Mutter sogleich antworten.«
Der Junge hatte sich abgewendet und starrte finster zu Boden. »Was soll ich ihr antworten?« murmelte er.
»Was dein Herz dir eingibt für die unglückliche Frau.«
Pavel verzog den Mund: »Es geht ihr ja gut.«
»Gut, du dummer Bub? gut im Kerker?«
Der alte Mann geriet in Eifer, er wurde warm und beredsam; die schönen und vortrefflichen Dinge, die er sagte, ergriffen ihn selbst, ließen Pavel jedoch kühl. Er hatte auf die Vorstellungen des Lehrers zwei Antworten, die er hartnäckig wiederholte, ob sie paßten oder nicht: »Sie sagt ja selbst, daß es ihr gut geht«, und: »Die Schwester schreibt ihr nicht, warum soll ich ihr schreiben?«
»Hast du denn gar kein Gefühl für deine Mutter?« fragte der Lehrer endlich.
»Nein«, erwiderte Pavel.
Der Alte schüttelte sich vor Ungeduld: »Ich denk der Zeit, wo du ein Kind warst«, sprach er, »und brav unter der Obhut deiner braven Mutter, die dich zur Arbeit angehalten hat... Glotz du nur! – Brav und rechtschaffen, sag ich. Das war sie; aber leider gar zu geschreckt und immer halb närrisch aus Angst vor dem niederträchtigen... Na!« unterbrach er sich – »jeder Mensch hat Mitleid mit ihr gehabt, sogar den Richtern hat sie Erbarmen eingeflößt, nur du, ihr Sohn, bist mitleidslos gegen sie. Warum denn, warum? Ich frage dich, gib Antwort, sprich!« Er schob die Brille in die Höhe und näherte die kurzsichtigen Augen dem Gesichte Pavels.
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