Plötzlich griff er sich an den Kopf und stöhnte im tiefsten Schmerze auf. »Dummer Kerl, armer Teufel, ich kenn das! ich könnt etwas davon erzählen, ich – aber dir noch nicht«, unterbrach er sich und fuhr mit dem Zeigefinger dicht vor Pavels Nase hin und her, als er sah, wie dieser in hoher Spannung aufhorchte. »Das ist keine Geschichte für dich, jetzt noch nicht, später vielleicht einmal, wenn du gescheiter geworden bist – und wunder. Jetzt kriegst du die Wunden erst, aber du spürst sie noch nicht oder oberflächlich, vorübergehend; warte, bis sie sich werden eingefressen haben dann wirst du an mich denken, dann – im Alter. Dann wirst du wissen: Das ist das Ärgste, im Alter leiden um einer Jugendtorheit willen. Nicht einmal groß, Tausende haben Schlimmeres getan und leben in Frieden mit sich und mit der Welt. Ein Übermut – eine närrische Prahlerei – kaum eine Lüge, und doch just genug, um eine Hölle da drinnen anzufachen.« Er klopfte sich mit der Faust auf die eingedrückte Brust, sank auf den Sessel zurück, warf sich über den Tisch und vergrub den Kopf in die verschränkten Arme. So lag er lange, wie von Fieberfrösten durchrieselt, und Pavel betrachtete ihn mitleidig und wagte nicht, sich zu rühren. Was tat denn der Herr Lehrer? ... Schluchzte er? War es der Krampf eines unaufhaltsamen Weinens, was diesen gebrechlichen Körper so erschütterte? Du lieber Gott, worüber kränkte sich der Mann? Worin bestand das Unrecht, was er in seiner Jugend begangen hatte und das ihn im Alter nicht mehr froh werden ließ? ... Neugier war sonst Pavels Sache nicht, das Geheimnis des Lehrers aber hätte er gern ergründet. Und geholfen hätte er ihm auch gern, ihm und sich selber mit. In welcher Weise, war ihm bereits eingefallen; es gab ja heute einen solchen Sturm und Sturz von Gedanken in seinem Kopf, daß er sie ordentlich sausen und krachen hörte.

»Herr Lehrer«, begann er, näherte sich ihm und tippte leise mit dem Finger auf seine Schulter. »Herr Lehrer, hören Sie, ich will Ihnen etwas sagen.«

Habrecht richtete sich auf, lächelte trübsinnig und sprach: »Bist noch da, dummer Junge, geh nach Hause. – Geh!« wiederholte er streng, als seine erste Aufforderung ohne Wirkung blieb.

Pavel jedoch stand fest wie ein verkörperter Entschluß, blickte dem Lehrer ruhig in die Augen und beteuerte, nach Hause gehe er nicht, heute müsse er etwas anfangen. Er habe schon im Kloster anfangen wollen, dort sei es aber nichts gewesen, und so bäte er, beim Herrn Lehrer anfangen zu dürfen.

»Was«, fragte der, »was denn anfangen?«

»Das neue Leben«, erwiderte Pavel und wußte erstaunlich gut Bescheid darüber zu gehen, wie er sich dasselbe vorstelle. Im Kloster hatte er demütig gebeten, man möge ihn behalten; dem Lehrer versprach er in beinahe tröstlicher Weise, er werde von nun an immer bei ihm bleiben und dafür sorgen, daß ihm ein rechter Nutzen aus dieser Hausgenossenschaft erwachse. Wie oft habe sich der Lehrer über die Nachlässigkeit ärgern müssen, mit welcher die Gemeinde ihrer Pflicht nachkam, das zur Schule gehörende Feld zu bestellen. Jetzt wolle er dieses Feld in seine Obhut nehmen und den Garten ebenfalls; bald werde man sehen, ob das Feld noch schlecht bestellt, ob der Garten noch eine Wildnis sei. Nicht eben breit, aber sehr langsam setzte Pavel auseinander, wie fleißig er sein und zum Entgelt nichts ansprechen wolle als ein Obdach und die Kost. Geld verdienen könnte er im Spätherbst und im Winter in der Fabrik, wo sie bis zu einem Gulden Taglohn zahlen. Habe er deren hundert beisammen, dann ließe sich an den Ankauf von soviel Grund und Boden denken, als man brauche, um ein Haus darauf zu bauen. Seine Schwester werde ihrerseits weitersparen, und sooft als nur möglich wolle er sie besuchen – er wisse, wie gar sehr böse es für ihn gewesen sei, daß er sie so lange nicht habe sehen dürfen. Am Ende verfiel er wieder in seinen tröstlichen Ton und versprach, sich am Abend regelmäßig beim Lehrer einzufinden: »Damit Sie nicht so allein sind, da können Sie lesen in Ihrem –« schon wollte er sagen: Hexenbuch, verschluckte aber glücklich die zwei ersten Silben und sprach nur die letzte aus –, »und ich zähl indessen mein Geld.«

Habrecht hatte ihn reden lassen und dabei einige Male vor sich hingeseufzt: »Dummer Bub«, aber Pavel konnte dennoch bemerken, daß der Lehrer nicht so abgeneigt war, wie er sich stellte, die Ausführbarkeit des vorgebrachten Planes zuzugeben.

»Alles gut«, sagte er endlich, »oder wenigstens nicht so unvernünftig, wie man's von dir gewohnt ist; aber doch alles nichts, kann alles nicht sein ohne Erlaubnis der Gemeinde.«

Die werde zu haben sein, der Herr Lehrer solle sich nur recht ansetzen! meinte Pavel und verfocht seine Meinung mit solcher Unerschütterlichkeit, wiederholte, wenn eine neue Antwort auf neue Einwände ihm nicht einfiel, mit so störrischem Gleichmut immer wieder die alte, bis der Lehrer sich überwunden gab und ausrief: »So bleib denn in Gottes Namen, wenn du schon nicht wegzubringen bist, Klette!«

Da machte Pavel einen Freudensprung, unter dessen Wucht der Boden zitterte, und jauchzte: »Ich hab's ja gewußt, der Herr Lehrer wird mir helfen.«

Der Lehrer verwies ihm seine Plumpheit, seine Wildheit, und immerfort zankend, aber mit einem ungewohnten Ausdruck tiefinnerster Zufriedenheit in seinem armen, grauen Gesicht, traf er Anstalt zur Bewirtung und Aufnahme des Gastes. Pavel erhielt ein Butterbrot, das ihm so ausgezeichnet schmeckte wie noch nie zuvor und wie auch später niemals wieder ein Butterbrot, und wurde in die ans Zimmer stoßende Kammer gewiesen. Der Lehrer breitete einen Kotzen auf dem Boden aus: »Da streck dich aus und schlaf gleich ein«, befahl er, deckte den Jungen mit einem fadenscheinigen Radmantel zu und ging, die Tür hinter sich schließend. Pavel blieb im Dunkeln zurück und hatte den besten Willen, der letzten Weisung des Lehrers nachzukommen, doch gelang es ihm nicht, denn seine Seele war des Jubels zu voll. So hatte es denn angefangen, das neue Leben! so lag er nicht mehr frierend, zusammengekauert im Flur der Hirtenhütte, in dem der Wind eiskalt und messerscharf durch die klaffenden Türspalten drang; er lag unter einem Mantel aus wirklichem Tuch in einer Kammer, wo die Luft fest eingesperrt war und wo es vortrefflich roch, nach allerhand guten Sachen, nach altehrwürdigen Gewändern, nach Schabenkräutern, nach Stiefeln, nach saurer Milch. Wie wohl befand er sich und wie genoß er im vorhinein die Freude, die Milada haben würde an seinem Glück! Im Gedanken an seine Schwester schloß er die Augen, und als er sie wieder öffnete, schimmerte die schlanke Sichel des jungen Mondes durchs Fenster herein. Er grüßte ihn und sagte zu ihm: »Auch du fängst an, wir fangen beide an.« Dabei überkam ihn trotz all des Neuen, das ihn umgab, trotz all des Neuen, das in ihm gärte und keimte, zum erstenmal nach langer, langer Zeit ein Heimatsgefühl.