Auf den Feldern lag harter, hoher Schnee; die Erde schimmerte lichter als der Himmel, an dem die bleiche Mondessichel immer wieder hinter treibendem Gewölk verschwand. Pavel gelangte ans Gartengitter, überkletterte es und ließ sich von oben in die Fichten und dann von Zweig zu Zweig zu Boden fallen. Da befand er sich nun im Garten, wußte auch, in welcher Gegend desselben, in der dem Dorf entgegengesetzten, der besten, die er hätte wählen können, für jetzt sowohl wie später zur Flucht. Von steigender Zuversicht erfüllt, ging er vorwärts... immer geradeaus, und man muß zum Schlosse kommen. Was dann zu geschehen hätte, malte Pavel sich nicht deutlich aus; er ging, Milada zu befreien, das war ihm herrlich klar, und mochte alles übrige Zweifel und Ratlosigkeit sein, der Gedanke erleuchtete ihm die Seele, den hielt er fest. Daß er jämmerlich zu frieren begann in seinen elenden Kleidern, daß ihm die Glieder steif wurden, grämte ihn nicht; aber schlimm war's, daß immer tiefere Finsternis einbrach und Pavel alle Augenblicke an einen Baum anrannte und hinfiel. Wenn er auch das erstemal gleich wieder auf die Beine sprang, beim zweiten Male schon kam die Versuchung: Bleib ein wenig liegen, raste, schlafe! Trotzdem aber erhob er sich mit starker Willenskraft, tappte weiter und gelangte endlich ans Ziel, das er sich vorgesetzt – ans Schloß. Hochauf schlug ihm das Herz, als er an die alte verwitterte Mauer griff. Weiß Gott, wie nahe er der Schwester ist; weiß Gott, ob sie nicht in dem Zimmer schläft, vor dessen Fenster er jetzt steht, das er zu erreichen vermag mit seinen Händen... Es könnte so gut sein – warum sollte es nicht? und leise, leise fängt er an zu pochen... Da vernimmt er dicht am Boden ein knurrendes Geräusch, auf kurzen Beinen kommt etwas herbeigekrochen, und ehe er sich's versieht, hat es ihn angesprungen und sucht ihn an der Kehle zu packen. Pavel unterdrückt einen Schrei; er würgt den Köter aus allen seinen Kräften. Aber der Köter ist stärker als er und wohlgeübt in der Kunst, einen Feind zu stellen. Das Geheul, das er dabei ausstieß, tat seine Wirkung, es rief Leute herbei. Sie kamen schlaftrunken und ganz erschrocken; als sie aber sahen, daß sie es nur mit einem Kind zu tun hatten, wuchs ihnen sogleich der Mut. Pavel wurde umringt und überwältigt, obwohl er raste und sich zur Wehr setzte wie ein wildes Tier.

 

3

 

Was Pavel im Schlosse gewollt, erfuhr niemand; aber die Hartnäckigkeit, mit welcher er jede Auskunft verweigerte, bewies deutlich genug, daß er die schlechtesten Absichten gehabt haben mußte. Einbrechen wahrscheinlich oder Feuer anlegen, dem Kerl ist alles zuzutrauen. So sprach die öffentliche Meinung, und die mit Elternrechten ausgestattete Gemeinde beschloß Pavels exemplarische Züchtigung durch den Herrn Lehrer Habrecht in Gegenwart der sämtlichen Schuljugend.

Der Lehrer, ein kränklicher, nervöser Mann, verstand sich äußerst ungern zur Ausübung des ihm zugemuteten Strafgerichts. Seine Ansicht war, daß solche vor einem jugendlichen Publikum vorgenommene Exekution demjenigen, an dem sie vollzogen wird, selten nützt, und denen, die ihr zusehen, immer schadet. »Dieses Vieh wird durch den Anblick ein noch ärgeres Vieh«, äußerte er, viel zu derb für einen Pädagogen. Man hatte, wenn auch nicht ganz überzeugt, seine Einwendung oft gelten lassen, dieses Mal fruchtete sie nichts.

An dem Tage, der zur Bestrafung des nächtlichen Einschleichers bestimmt war, übernahm ihn denn der Lehrer seufzend aus den Händen der Schergen und führte ihn am Schopfe bis zur Tür der Schulstube. Hier blieb er stehen, hob den gesenkten Kopf des Knaben in die Höbe und sagte: »Schau mich an, was schaust denn immer auf den Boden, schlechter Bub!«

Nicht liebreich waren diese Worte! und doch, woran lag es denn, daß sie dem Pavel ordentlich wohltaten und daß sogar die Art, in welcher der Herr Lehrer ihn dabei an den Haaren zauste, etwas Vertraueneinflößendes hatte und wie eine Herzstärkung wirkte?

»Fürcht dich, du Bosnickel, du Trotznickel! Fürcht dich!« fuhr jener fort, machte schreckliche Augen und schwang mit äußerst bezeichnender Gebärde den dürren Arm in der Luft. Und Pavel, aus dem seit drei Tagen kein Wort herauszubringen gewesen, der seit drei Tagen keinem Menschen ins Gesicht geschaut hatte, richtete mit einem Male seinen scheuen Blick blinzelnd auf den Lehrer und sprach mit einem halben Lächeln: »Ich fürcht mich aber doch nicht.«

Aus der Schulstube hatte es früher herausgesummt wie aus einem Bienenkorbe, dann war das Summen in wüsten Lärm übergegangen, und jetzt wurde da drinnen gerauft um die besten Plätze zum bevorstehenden Schauspiel. Der Lehrer brummte unwillig vor sich hin und schüttelte Pavel von neuem: »Wenn du dich schon nicht fürchtest, so schrei, schrei, was du kannst, rat ich dir!« sagte er, öffnete die Tür und trat ein. Sogleich wurde es still in der Stube, nur einzelne unwillkürliche Ausrufe befriedigter Erwartung ließen sich hören; freundschaftlich rückte man aneinander in den Bänken; die rührendste Eintracht herrschte. Der Lehrer stellte Pavel neben das Katheder und sah sich nach der Rute um. Da er sie eine Weile nicht fand oder nicht zu finden schien, rief eine Stimme: »Dort im Fenster steht sie, im Winkel.« Die Stimme kam aus einer der letzten Reihen und gehörte dem Arnost, dem Sohne des Häuslers, bei dem Virgil zur Miete wohnte. Pavel ballte die Faust gegen ihn, was zu einem Gemurmel der Entrüstung Anlaß gab. Mehr als hundert Augen richteten sich schadenfroh und gehässig auf den braunen zerlumpten Jungen.