65 - Der verlorene Sohn 06 - Das letzte Duell

Karl May

Das letzte Duell

Der verlorene Sohn 6

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Text dieser Ausgabe folgt in sorgfältiger Überarbeitung
der Textgestalt des ehemaligen Verlags von H.G. Münchmeyer, Dresden,
die von Karl May selbst geschaffen wurde.

Die Orthographie wurde der heutigen Schreibweise angeglichen
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ERSTES KAPITEL

Zwei Köhler in der Stadt

Einige Tage später saß der Köhler Hendschel mit seiner Frau und dem Holzschnitzer Weber an dem Lager seines Patienten, der natürlich nun nicht mehr militärisch bewacht wurde, aber noch immer in einem Zustand mangelnden Bewußtseins lag.

Da sah der Alte eine Uniform unter den Bäumen schimmern.

„Der Postbote!“ rief er aus.

„Will der denn zu uns?“ fragte die Köhlerin verwundert.

„Zu wem denn sonst? Wir sind die Letzten hier am Ende der Welt. Wer sich hier sehen läßt, der will zu uns.“

„Aber wer kann uns denn schreiben?“

„Das werden wir sogleich erfahren.“

Der Briefträger kam herein, hob einen großen Brief empor und las die Adresse:

„Herrn Kohlenbrenner Andreas Hendschel. Eichengrund bei Dorf Wettersheim.“

„Der bin ich!“ bestätigte der Alte.

„Das will ich meinen! Ihnen einen Brief zu bringen, das ist eine Arbeit. Ich habe fast zwei Stunden zu gehen.“

„Dafür gebe ich einen Schnaps.“

Er zog die alte, nur sehr selten angerührte Flasche aus dem Wandschränkchen und schenkte ein. Dann hielt er, während der Briefträger trank, den Brief gegen das Licht, schüttelte den Kopf und sagte:

„Das sieht gerade wie ein Amtsbrief aus!“

„Natürlich“, sagte der kundige Postbeamte. „Er kommt aus dem Oberlandesgericht.“

„Was! Aus der Hauptstadt?“

„Freilich.“

„Was wird man von mir wollen?“

„Das werden Sie im Brief lesen.“

„Ich kann ihn nicht lesen. Der Schreck ist mir in alle Glieder gefahren. Machen Sie ihn auf. Lesen Sie ihn vor!“

Der Briefträger öffnete das Schreiben unter vieler Umständlichkeit und las folgendes:

„Der Kohlenbrenner Andreas Hendschel in Eichengrund wird hiermit veranlaßt, sich binnen heute und zehn Tagen an Amtsstelle hier einzufinden. Anmeldung bei dem Herrn Oberlandesgerichtsrat von Eichendörffer.“

„Herrgott! Sie wollen mir den Prozeß machen!“ rief er aus.

„Weshalb denn den Prozeß?“ fragte Weber.

„Weil – weil – ich weiß es selbst nicht.“

Im stillen aber dachte er an den Hauptmann, den er ja bei sich beherbergt hatte.

„Na, Gevatter, wenn du nichts weißt, so hast du ja nichts begangen“, meinte Weber. „Und wer nichts begangen hat, dem kann man nichts tun. Sei also unbesorgt!“

„Aber gerade in das Oberlandesgericht!“

„Desto besser! Je höher, desto hübscher!“

Dann meinte der Briefträger, indem er einen kleinen Brief zum Vorschein brachte:

„Hier ist noch ein Schreiben, auch mit einem großen Wappen. Vielleicht gibt es da Aufklärung.“

„Lesen Sie auch diesen vor!“ meinte der Köhler, indem er sich ganz matt niedersetzte.

Der Briefträger gehorchte. Der Inhalt lautete:

„Dem Kohlenbrenner Andreas Hendschel!

Sie werden eine Vorladung an das Oberlandesgericht hier erhalten. Kommen Sie möglichst bald, und melden Sie sich bei mir, Palaststraße. Ich beabsichtige, Sie selbst dem Herrn Oberlandesgerichtsrat von Eichendörffer vorzustellen.

Fürst von Befour.“

„Da bin ich so klug wie zuvor!“ jammerte der Alte. „Nun soll ich nicht nur zu einem Oberlandesgerichtsrat, sondern gar zu einem Fürsten. Was wird das zu bedeuten haben!“

„Vielleicht doch etwas Gutes“, meinte der Briefträger.

„Gutes? Prosit die Mahlzeit! Mit solchen Herren ist niemals gut Kirschenessen. Wenn diese Leute unsereinen zu sich bestellen, dann ist ganz gewiß der Teufel los. Das weiß man ja.“

„Na, so schlimm ist es doch wohl nicht. Oder haben Sie vielleicht ein böses Gewissen, ha?“

„Ich?“ fragte der Alte verlegen. „Was sollte ich denn für Böses auf meinem Gewissen haben?“

„So brauchen Sie sich doch auch nicht zu fürchten!“

„Wenn man nur wüßte, was diese Herren eigentlich wollen!“

„Das werden Sie schon hören.“

„Hören? Ja. Vielleicht auch fühlen!“

Da sagte seine Frau, indem sie ihm die Hand beruhigend auf die Achsel legte:

„Höre, Alter, wurde nicht der vornehme Herr, welcher hier bei dem Staatsanwalt war, Durchlaucht genannt?“

„Ja, freilich.“

„Hm! Wie mag er wohl geheißen haben?“

„Na, das war ja eben dieser Fürst von Befour, der mir das Leder über den Kopf ziehen will!“

„Aber der sah mir gar nicht so böse aus.“

„Oh, diese Herren sehen alle so aus, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten. Aber wenn es dann einmal losgeht, dann geht es mit Pauken und Trompeten los.“

„Der Fürst war also auch hier?“ fragte Weber.

„Ja. Er wollte den Kranken hier ansehen.“

„Bei uns in Langenstadt war er auch. Gevatter, vor dem brauchst du keine Angst zu haben. Der ist berühmt, der bringt keinen armen Teufel in das Unglück.“

„Kennst du ihn denn?“

„Na und ob!“

„Woher denn?“

„Nun, zunächst von daher, daß er aus der Tochter eines gewöhnlichen Beamten eine Baronesse von Scharfenberg gemacht hat. Wenigstens ist er mit dabei gewesen. Sodann kennt ihn meine Magda sehr genau.