Ich dachte mir, daß ich und Pépé schon irgendwie unser Fortkommen finden werden. Schlimmer als in Valognes kann es uns doch hier nicht gehen.«
Eines allerdings verschwieg sie: eine Liebesgeschichte Jeans. Er hatte an ein junges Mädchen, die Tochter einer adeligen Familie der Stadt, Briefe geschrieben und über eine Mauer hinweg Küsse mit ihr ausgetauscht. Daraus war ein kleiner Skandal entstanden, der sie bestimmt hatte, Valognes zu verlassen. Sie begleitete ihren Bruder hauptsächlich nach Paris, um über ihn zu wachen; denn ihr Herz war von wahrhaft mütterlicher Besorgnis erfüllt, wenn sie diesen schönen und munteren Jungen sah, den alle Frauen anhimmelten.
Onkel Baudu konnte sich noch immer nicht fassen. Er begann wieder zu fragen.
»Hat denn dein Vater euch nichts hinterlassen? Ich dachte, er habe einen Sparpfennig. Ich habe ihm in meinen Briefen oft genug geraten, diese Färberei nicht zu übernehmen. Ein gutes Herz, aber nicht für zwei Sou Verstand! … Und du bist mit diesen Jungen zurückgeblieben und hast sie versorgen müssen?!«
Sein galliges Gesicht belebte sich; er sah nicht mehr so finster drein wie vorhin, als er das »Paradies der Damen« betrachtet hatte. Plötzlich bemerkte er, daß er den Eingang verstellte.
»So kommt herein«, rief er, »wenn ihr schon hier seid! Kommt herein, das ist gescheiter, als vor den Dummheiten dort drüben Maulaffen feilzubieten.«
Nach einem letzten Zornesblick auf das Geschäft gegenüber machte er den Kindern Platz, so daß sie eintreten konnten. Zugleich rief er Frau und Tochter.
»Elisabeth, Geneviève! Kommt, hier sind Gäste für euch!«
Aber Denise und die beiden Jungen zögerten angesichts des dunklen Ladens. Noch geblendet vom hellen Licht der Straße, blinzelten sie mit den Augen, tasteten sich mit den Füßen voran und rückten enger zusammen.
»Kommt, kommt!« wiederholte Baudu seine Einladung.
Er klärte Frau und Tochter in kurzen Worten auf. Frau Baudu war sehr blaß, offenbar bleichsüchtig, mit grauen Haaren, farblosen Augen und blutleeren Lippen; Genevieve, bei der sich die Krankheit ihrer Mutter noch deutlicher zeigte, war gebrechlich und farblos wie eine im Schatten aufgewachsene Pflanze. Nur eine Fülle von prächtigen schwarzen Haaren verlieh ihr einen etwas schwermütigen Reiz.
»Kommt herein!« sagten nun auch die beiden Frauen. »Seid willkommen!«
Sie ließen Denise hinter einem Ladentisch Platz nehmen. Pépé setzte sich sogleich auf ihre Knie, während Jean, an einen Schrank gelehnt, neben ihr stand. Sie wurden allmählich sicherer und blickten im Laden umher, an dessen Dunkelheit sich ihre Augen langsam gewöhnten. Düstere Warenballen türmten sich bis zur Decke empor. Der Geruch der Tücher und Stoffe wurde durch die Feuchtigkeit des Fußbodens noch verstärkt. Zwei Gehilfen und eine Verkäuferin waren im Hintergrund damit beschäftigt, weißen Flanell fortzuräumen.
»Der kleine Herr da möchte vielleicht etwas essen?« sagte Frau Baudu und wies lächelnd auf Pépé.
»Nein, danke«, erwiderte Denise; »wir haben in einem Cafehaus vor dem Bahnhof eine Tasse Milch getrunken.«
Als sie merkte, daß Genevieve aufmerksam das leichte Bündel betrachtete, das sie neben sich auf den Boden gelegt hatte, fügte sie hinzu:
»Ich habe den Koffer auf dem Bahnhof gelassen.«
Sie errötete, denn ihr wurde nun klar, daß man den Leuten nicht in dieser Weise mit der Tür ins Haus fallen durfte. Schon in der Eisenbahn hatte sie gleich nach der Abfahrt von Valognes Gewissensbisse empfunden; darum hatte sie auch ihren Koffer auf dem Bahnhof zurückgelassen und den Kindern vor der Stadt draußen ein Frühstück geben lassen.
»Nun wollen wir einmal kurz und in aller Offenheit miteinander reden«, sagte Baudu mit einemmal. »Ich habe dir geschrieben, das ist wahr. Aber seither ist fast ein Jahr verflossen, und das Geschäft ging sehr schlecht, mein Kind…«
Er hielt inne, von einem Gefühl erfaßt, das er sich nicht anmerken lassen wollte. Frau Baudu und Geneviève schlugen die Augen nieder.
»Es ist eine schwere Zeit, die vorübergehen wird«, fuhr der Onkel fort. »Da habe ich keine Sorge… Aber ich mußte mein Personal einschränken; es sind nur noch drei Angestellte da, und dies ist keineswegs der geeignete Zeitpunkt, jemand vierten einzustellen. Kurz: ich kann dich nicht ins Haus nehmen, wie ich es dir versprochen habe, mein armes Kind.«
Ganz blaß und bestürzt hatte Denise zugehört.
»Schon recht, Onkel!« stotterte sie endlich mühsam. »Ich werde mich bemühen, anderswo unterzukommen.«
Die Baudus waren keine schlechten Menschen. Aber sie klagten ständig darüber, daß sie niemals Glück gehabt hätten. Als das Geschäft noch gut ging, hatten sie fünf Söhne zu erziehen gehabt, von denen drei in jungen Jahren gestorben waren; der vierte war ein Taugenichts geworden, der fünfte als Hauptmann nach Mexiko gegangen. So blieb ihnen nur Geneviève. Alle Kinder hatten viel Geld gekostet, und den letzten Rest seines Kapitals hatte Baudu an den Kauf eines alten Hauses in Rambouillet gewendet, von wo seine Frau herstammte.
1 comment