Das Phantom der Oper

Gaston Leroux

Das Phantom der Oper

Inhaltsangabe

Seltsames, Unerklärliches geschieht in der Pariser Oper: Ein Mann wird erhängt aufgefunden, der riesige Kronleuchter fällt ins Parkett. Und bald ist es Gewißheit: Ein Gespenst geht um in der Oper! Es kommt und geht wie ein Schatten. Keiner wagt ihm zu folgen. Niemand weiß, daß es nur eins begehrt: die Liebe einer jungen Sängerin. ›Das Phantom der Oper‹ ist die Vorlage für Andrew Lloyd Webbers Musical-Welterfolg.

Deutsch von Johannes Piron
 

Mit einem Nachwort

von Richard Alewyn

 

Ungekürzte Ausgabe

1. Auflage Dezember 1980

 

 

 

 

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

München

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des

Carl Hanser Verlags, München

© A. Gaston Leroux und Madeleine Leroux

Titel der französischen Originalausgabe:

›Le fantôme de l'opéra

© 1968 der deutschsprachigen Ausgabe:

Carl Hanser Verlag, München

Umschlaggestaltung: Celestino Piatti

Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei,

Nördlingen

Printed in Germany ‧ isbn 3-423-10953-x

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Prolog

In dem der Verfasser dieses eigenartigen Buches berichtet, wie er zu der Überzeugung gelangte, daß das Phantom der Oper zweifellos existiert hat

Das Phantom der Oper hat wirklich existiert. Es handelte sich nicht, wie man lange Zeit annahm, um eine Erfindung der Sänger und Sängerinnen, nicht um einen Aberglauben der Direktoren, auch nicht um ein Hirngespinst der überspannten Dämchen vom Corps de ballet oder ihrer Mütter, der Logenschließerinnen, der Garderobefrauen und der Concierge.

Ja, es hat leibhaftig existiert, wenn es auch wie ein echtes Phantom auftrat, das heißt als Schemen.

Bei meinen Nachforschungen in den Archiven der Académie nationale de Musique frappierte mich von Anfang an die erstaunliche Übereinstimmung der dem Phantom zugeschriebenen Phänomene mit dem, was sich an Mysteriösem und Tragischem ereignet hatte, und schon bald kam mir der Gedanke, daß man vielleicht das eine durch das andere verstandesmäßig erklären könnte. Die Ereignisse liegen erst dreißig Jahre zurück, und noch heute laufen ehrwürdige alte Herren, an deren Wort nicht zu zweifeln ist, in dem Foyer de la Danse herum, die sich so genau, als wäre es gestern geschehen, an die rätselhaften Umstände erinnern, die Christine Daaés Entführung, Vicomte de Chagnys Verschwinden und den Tod seines älteren Bruders, des Grafen Philippe, begleiteten, dessen Leiche am Steilufer des sich zur Rue Scribe hin unter der Oper ausdehnenden Sees gefunden wurde. Aber keiner dieser Zeugen hielt es bisher für nötig, diese grauenhafte Geschichte mit der fast legendären Gestalt des Phantoms in Verbindung zu bringen.

Mir dämmerte die Wahrheit nur allmählich, denn mich verwirrten Vorfälle, auf die ich bei meinen Nachforschungen immer wieder stieß und die ich einfach für übernatürlich halten mußte, und mehrmals war ich nahe daran, mein Vorhaben aufzugeben, denn ich vergeudete bloß meine Kraft, indem ich einem Trugbild nachjagte, ohne es je fassen zu können. Aber schließlich fand ich den Beweis, daß meine Vorahnungen stimmten, und an dem Tage, an dem ich die Gewißheit hatte, daß das Phantom der Oper mehr als ein Schemen war, wurde ich für all meine Anstrengungen belohnt.

An diesem Tag hatte ich mich stundenlang mit den ›Memoiren eines Operndirektors‹ beschäftigt, dem oberflächlichen Werk jenes reichlich skeptischen Moncharmin, der während seiner kurzen Amtstätigkeit an der Oper im Grunde nichts von dem finsteren Treiben des Phantoms kapierte und als erster auf die merkwürdige Transaktion mit dem ›Zauberkuvert‹ hereinfiel.

Entmutigt verließ ich die Bibliothek, als ich den charmanten Verwalter unserer Académie nationale de Musique traf, der auf einem Treppenabsatz mit einem lebhaften und eleganten alten Herrn plauderte, dem er mich sogleich erfreut vorstellte. Der Verwalter wußte nämlich über meine Nachforschungen Bescheid, kannte also auch den Eifer, mit dem ich bisher vergeblich versucht hatte, herauszubekommen, wohin sich Monsieur Faure, der Untersuchungsrichter in dem berühmten Fall Chagny, zurückgezogen hatte. Es war nicht bekannt, was aus ihm geworden war, ja nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte oder ob er schon gestorben war – und nach seiner Rückkehr aus Kanada, wo er fünfzehn Jahre verbracht hatte, galt sein erster Weg in Paris dem Sekretariat der Oper, wo er sich eine Freikarte beschaffen wollte. Denn besagter alter Herr war kein anderer als Monsieur Faure persönlich.

Wir blieben bis spät abends zusammen, und er erzählte mir den ganzen Fall Chagny so, wie er ihn seinerzeit gesehen hatte. Aus Mangel an Beweisen mußte er zu dem Schluß kommen, daß der Vicomte wahnsinnig geworden war und daß es sich bei dem Tod seines älteren Bruders um einen Unfall handelte, aber er selbst zweifelte nicht daran, daß sich Christine Daaés wegen ein furchtbares Drama zwischen den beiden Brüdern abgespielt hatte. Er konnte mir nicht sagen, was aus Christine oder dem Vicomte geworden ist. Als ich das Phantom erwähnte, lachte er nur darüber. Auch ihm hatte man die merkwürdigen Vorfälle geschildert, die das Vorhandensein eines seltsamen Wesens zu bestätigen schienen, das sich einen der geheimnisvollsten Winkel der Oper zum Unterschlupf gewählt hatte, und auch er kannte die Geschichte mit den ›Kuverts‹, aber er konnte darin nichts entdecken, was für ihn als Untersuchungsrichter im Fall Chagny von Bedeutung gewesen wäre, wenn er sich auch kurz die Aussage eines Zeugen anhörte, der sich freiwillig gemeldet hatte, um zu beschwören, daß er dem Phantom begegnet sei. Dieser Zeuge war eine dem Stammpublikum der Oper bekannte Figur, die ganz Paris den ›Perser‹ nannte. Der Richter hatte ihn für einen Geisterseher gehalten.

Wie man sich vorstellen kann, interessierte mich dieser Perser brennend. Ich wollte, wenn es noch möglich war, diesen wertvollen und wunderlichen Zeugen unbedingt wiederfinden. Ich hatte Glück und stöberte ihn in seiner kleinen Wohnung in der Rue de Rivoli auf, wo er schon damals lebte und wo er auch fünf Monate nach meinem Besuch starb.

Anfangs traute ich ihm nicht so recht, aber nachdem mir der Perser mit kindlicher Offenheit alles erzählt hatte, was er persönlich von dem Phantom wußte, und nachdem er mir die Beweise für dessen Existenz zur Verfügung gestellt hatte, vor allem Christine Daaés Korrespondenz, die ihr entsetzliches Schicksal ans Licht brachte, konnte ich nicht länger zweifeln! Nein! Nein! Das Phantom war keine Mythe.

Man hat zwar eingewandt, daß die ganze Korrespondenz gefälscht sei, vermutlich bis in alle Einzelheiten von einem Mann mit einer blühenden Phantasie, aber zum Glück entdeckte ich Christines Handschrift auf Papieren, die nicht zu dem berühmten Bündel Briefen gehörten, so daß ich Vergleiche anstellen konnte, die meine Bedenken restlos zerstreuten.

Außerdem verschaffte ich mir Auskünfte über den Perser, aus denen hervorging, daß er ein ehrlicher Mensch war, der nicht im Traum daran gedacht hätte, die Justizbehörden irrezuführen.

Dieser Meinung sind übrigens auch die wichtigsten Personen, die irgend etwas mit dem Fall zu tun hatten und mit der Familie befreundet waren, und denen ich meine sämtlichen Beweisstücke vorgelegt und meine Schlußfolgerungen erläutert habe. Sie bestärkten mich darin, und ich gestatte mir in diesem Zusammenhang hier einige Zeilen abzudrucken, die mir der General D. schrieb:

»Monsieur,

ich kann Sie nur dazu anspornen, die Ergebnisse Ihrer Nachforschungen zu veröffentlichen. Ich erinnere mich noch genau, daß einige Wochen vor der Entführung der großen Sängerin Christine Daaé und der Tragödie, die den ganzen Faubourg Saint-Germain in Trauer versetzte, im Foyer de la Danse oft die Rede von dem Phantom war, und ich glaube, daß nur infolge dieser Affäre, die uns alle so ergriff, nicht mehr darüber gesprochen wurde. Sollte es aber, was ich annehme, nachdem ich Ihnen zugehört habe, möglich sein, die Tragödie durch das Phantom aufzuklären, so bitte ich Sie, Monsieur, uns wieder von dem Phantom zu erzählen. Denn so rätselhaft selbiges auch anfangs anmuten mag, es läßt sich immer noch leichter erklären als diese düstere Geschichte, in der übelwollende Leute nichts anderes sehen wollten, als daß zwei Brüder, die sich ihr Leben lang innig liebten, auf den Tod haßten …

Ich verbleibe … usw.«

Von neuem durchstreifte ich mit den Unterlagen in meiner Hand die weite Domäne des Phantoms, das monumentale Gebäude, das es zu seinem Reich gemacht hatte, und alles, was mein Auge erblickte, mein Geist entdeckte, bestätigte die Dokumente des Persers – als meine Mühe von einem verblüffenden Fund gekrönt wurde.

Kürzlich legten beim Ausschachten eines Aufbewahrungsortes für die phonographisch aufgenommenen Stimmen berühmter Sänger im Keller der Oper die Spitzhacken der Arbeiter eine Leiche frei. Nun erhielt ich sofort den Beweis, daß es sich dabei um die Leiche des Phantoms der Oper handelte.