Ich hatte nichts gehört, weil ich gemütlich faul auf der Veranda im Liegestuhl lag und las. Da kam Margot ganz aufgeregt an die Tür. »Anne, für Vater ist ein Aufruf von der SS gekommen«, flüsterte sie, »Mutter ist schon zu Herrn van Daan gelaufen.« Ich erschrak furchtbar. Ein Aufruf ... jeder weiß, was das bedeutet: Konzentrationslager ... einsame Zellen sah ich vor mir auftauchen, und dahin sollten wir Vater ziehen lassen!

»Er geht natürlich nicht«, sagte Margot bestimmt, als wir im Wohnzimmer zusammensaßen, um auf Mutter zu warten. »Mutter ist zu van Daans gegangen, um zu besprechen, ob wir nun schon morgen untertauchen, v. Daans gehen mit, dann sind wir sieben.« Ganz still war es. Wir konnten nicht mehr sprechen. Der Gedanke an Vater, der, nichts Böses ahnend, seine Schützlinge im jüdischen Altersheim besuchte, das Warten auf Mutter, die Hitze, die Spannung ... wir waren ganz stumm geworden.

Plötzlich schellte es. »Das ist Harry«, sagte ich. »Nicht öffnen«, hielt Margot mich zurück, aber es war überflüssig. Wir hörten Mutter und Herrn van Daan mit Harry sprechen. Als er weg war, kamen sie herein und schlossen die Tür hinter sich ab. Bei jedem Klingeln mußten Margot oder ich ganz leise nach unten gehen und sehen, ob es Vater sei. Sonst durfte niemand herein.

Wir wurden beide aus dem Zimmer geschickt. Van Daan wollte mit Mutter allein sprechen. Als wir in unserem Zimmer warteten, erzählte mir Margot, daß der Aufruf nicht für Vater war, sondern für sie. Ich erschrak von neuem und begann bitterlich zu weinen. Margot ist 16. So wollen sie Mädels wie Margot allein verschicken!? Sie geht glücklicherweise nicht von uns weg. Mutter hat es gesagt, und darauf hatten wohl auch Vaters Worte gezielt, als er mit mir vom Untertauchen gesprochen hatte.

Untertauchen! Wo sollen wir untertauchen? In der Stadt, auf dem Lande, in irgendeinem Gebäude, einer Hütte, wann, wie, wo? Das waren Fragen, die ich nicht stellen durfte, die aber doch immer wieder in meinem Hirn kreisten.

Margot und ich begannen, das Nötigste in unsere Schultaschen zu packen. Das erste, was ich nahm, war dieses gebundene Heft, dann bunt durcheinander: Lockenwickler, Taschentücher, Schulbücher, einen Kamm und alte Briefe. Ich dachte ans Untertauchen und stopfte lauter unsinniges Zeug in die Tasche. Aber es tut mir nicht leid, Erinnerungen sind mir mehr wert als Kleider.

Um 5 Uhr kam Vater endlich nach Hause. Er rief Herrn Koophuis an und bat ihn, abends zu uns zu kommen. Herr van Daan ging, um Miep zu holen. Sie kam, packte Schuhe, Kleider, Mäntel, etwas Wäsche und Strümpfe in einen Handkoffer und versprach, abends wiederzukommen. Dann wurde es still bei uns.