Deshalb begnügte er sich damit, ins Atelier Boutin malen zu gehen, in ein freies Atelier, das ein ehemaliges Modell in der Rue de la Huchette unterhielt. Wenn er seine zwanzig Francs entrichtet hatte, fand er dort Aktmodelle, Männer und Frauen, um in seinem Winkel mit ihnen eine Orgie zu veranstalten; und er ereiferte sich, er vergaß Trinken und Essen dabei, rang rastlos mit der Natur, war versessen auf Arbeit neben den Stutzern, die ihm Unwissenheit und Faulheit vorwarfen und die eingebildet über ihre Studien sprachen, weil sie unter dem Auge eines Lehrers Nasen und Münder kopierten. »Hör mal, Alter, wenn einer von diesen Fatzken da einen Rumpf zustande bringt wie diesen hier, soll er raufkommen und mir das sagen, und wir können dann miteinander reden.«

Mit dem Ende seines Pinsels zeigte er auf eine Aktstudie, die in der Nähe der Tür an der Wand hing. Sie war großartig, mit meisterhafter, großzügiger Pinselführung hingeworfen; und daneben hingen noch weitere wunderbare Stücke, erlesene Mädchenfüße von feiner Wirklichkeitstreue; der Bauch einer Frau vor allem, ein atlasglatter, vom Blut, das unter der Haut floß, bebender lebensvoller Schoß. In den seltenen Stunden des Zufriedenseins empfand er Stolz auf diese paar Studien, die einzigen, an denen er nichts auszusetzen hatte, jene, die auf einen großen Maler schließen ließen, der wunderbar begabt war und der durch jähe, unerklärliche Anfälle von Unvermögen behindert wurde.

Heftig redete er weiter, pfuschte mit großen Strichen die Samtjacke hin und peitschte sich in eine Unerbittlichkeit des Urteils hinein, die niemand verschonte.

»Alles Achtgroschenkleckser, die sich ihren Ruf erschlichen haben, Dummköpfe oder Schlauberger, die vor der öffentlichen Dummheit auf Knien liegen. Kein Kerl dabei, der den Spießern eine Ohrfeige verabreicht! – Da! Papa Ingres22, bei dessen schleimiger Malerei mir speiübel wird? Na ja, der ist trotzdem ein verteufelter Bursche, und ich finde, er hat viel Schneid, und ich ziehe den Hut vor ihm, denn er pfeift auf alles, er hatte eine tolle Art zu zeichnen, die er diese Idioten zu schlucken gezwungen hat, die heute annehmen, sie verstünden ihn … Nach dem aber, verstehst du, gibt es nur noch zwei, Delacroix23 und Courbet24. Alles übrige ist Lumpenpack … He? Der alte romantische Löwe, was für eine stolze Art der hat! Der setzt einem Dekorationen hin, die er in allen Farbtönen flammen läßt! Und wie der rangeht! Der würde alle Mauern von Paris über und über bemalt haben, wenn man sie ihm gegeben hätte: seine Palette brodelte und kochte über. Ich weiß wohl, daß das nur Phantasterei war, na wenn schon! Das juckt mich, so möchte ich’s auch machen, das brauchte man, um die ganze Ecole des BeauxArts in Brand zu stecken … Dann ist der andere gekommen, ein tüchtiger Arbeiter, der wahrhaftigste Maler des Jahrhunderts, und mit einem absolut klassischen handwerklichen Können, was nicht einer dieser Trottel gespürt hat. Sie haben ihn ausgejohlt, weiß Gott! Sie haben ihm Profanierung, Realismus vorgeworfen, dabei war dieser berühmte Realismus kaum in den Themen zu finden, während die Art zu sehen die der alten Meister blieb und in der Ausführung, die schönen Stücke unserer Museen wiederaufgenommen und fortgeführt wurden … Delacroix und Courbet sind beide zur rechten Stunde aufgetaucht. Sie haben jeder einen Schritt nach vorn getan. Und nun, oh, nun …« Er schwieg, trat etwas zurück, um die Wirkung zu beurteilen, genoß eine Minute lang hingegeben den Eindruck seines Werkes, dann legte er wieder los: »Nun ist etwas anderes vonnöten … Aber was? Ich weiß nicht recht! Wenn ich das wüßte und wenn ich das könnte, wäre ich sehr bedeutend. Ja, es würde nur noch mich geben … Aber ich spüre, daß die große romantische Aufmachung von Delacroix kracht und einstürzt; und ich spüre auch noch, daß Courbets düstere Malerei bereits die Muffigkeit, die Schimmeligkeit des Ateliers vergiftet, in das die Sonne niemals hineinscheint … Verstehst du, vielleicht brauchte man die Sonne, vielleicht brauchte man freies Licht, eine klare und junge Malerei, die Dinge und Wesen, so wie sie sich in der echten Beleuchtung ausnehmen, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, unsere Malerei, die Malerei, die unsere heutigen Augen schaffen und betrachten müssen.« Seine Stimme erlosch von neuem, er stammelte, es gelang ihm nicht, das dumpfe Werden der Zukunft, die in ihm aufstieg, in Worte zu fassen. Ein großes Schweigen sank herab, während er bebend die Samtjacke fertigskizzierte.

Sandoz hatte ihm zugehört, ohne seine Pose aufzugeben. Und dem Maler den Rücken zukehrend, als spräche er zur Wand, sagte er dann wie im Traum:

»Nein, nein, man weiß es nicht, man müßte es wissen … Jedesmal, wenn ein Professor mir eine Wahrheit aufzwingen wollte, habe ich voll Trotz aufbegehrt und mir gedacht: Er täuscht sich, oder er täuscht mich. – Ihre Ideen bringen mich auf, mir scheint, die Wahrheit ist umfassender … Ach, wie schön wäre es, sein ganzes Dasein an ein Werk hinzugeben, bei dem man sich Mühe geben müßte, die Dinge, die Tiere, die Menschen, die ungeheure Arche Noah hineinzubringen! Und zwar nicht nach der Vorschrift der Philosophiehandbücher, nicht nach der dummen Rangordnung, in der unser Stolz es sich wohl sein läßt, sondern im vollen Fluß des allumfassenden Lebens – eine Welt, in der wir nur eine Zufälligkeit wären, in der der Hund, der vorüberstreunt, und sogar der Stein am Wege uns vervollständigen und Aufschluß über uns geben würden; schließlich das große Ganze, ohne oben und unten, weder schmutzig noch sauber, so wie es funktioniert … Klar, die Schriftsteller und die Dichter müssen sich heute an die Wissenschaft halten, sie ist heute die einzig mögliche Quelle. Aber das ist es, wie soll man ihr was entnehmen, wie soll man mit ihr Schritt halten? Gleich merke ich, daß ich mich verhaspele. Ach, wenn ich wüßte, wie man das lösen soll, was für eine Reihe von Schwarten würde ich da den Leuten an den Kopf schmeißen!« Er verstummte ebenfalls. Im letzten Winter hatte er sein erstes Buch veröffentlicht, eine Reihe von liebenswürdigen Skizzen, die er aus Plassans mitgebracht hatte und unter denen allein ein paar rauhere Töne auf den Empörer hinwiesen, der sich für Wahrheit und Macht begeisterte. Und seither tastete er herum, ging er mit sich selbst zu Rate, in der Qual der noch wirren Ideen, die in seinem Schädel hämmerten. Er, der zunächst in riesige Arbeiten verliebt war, hatte nun den Plan gefaßt, eine Weltentstehungsgeschichte in drei Abschnitten zu schreiben: die Schöpfung, der Wissenschaft entsprechend; die Geschichte der Menschheit, die zu ihrer Zeit in der Kette der Wesen eine Rolle zu spielen beginnt; die Zukunft, die immer aufeinanderfolgenden Wesen, die die Schöpfung der Welt durch die unendliche Arbeit des Lebens vollenden. Aber seine Begeisterung hatte sich abgekühlt angesichts der zu gewagten Hypothesen dieses dritten Abschnitts; und er suchte einen engeren, menschlicheren Rahmen, in den er dennoch seinen weiten Ehrgeiz fassen könnte.

»Ach, alles sehen und alles malen!« fing Claude nach einer langen Pause wieder an. »Meilenlange Gemäuer vollmalen, die Bahnhöfe, die Markthallen, die Bürgermeistereien ausschmücken, alles, was man bauen wird, wenn die Architekten keine Trottel mehr sind! Und nur Muskeln und ein vernünftiger Kopf sind nötig, denn an Themen herrscht kein Mangel … Was? Das Leben, so wie es in den Straßen vorüberzieht, das Leben der Armen und der Reichen, auf den Märkten, auf den Rennplätzen, auf den Boulevards, hinten in volkreichen Gassen; und alle Gewerbe bei der Arbeit; alle Leidenschaften wieder aufrecht ins volle Tageslicht stellen; und die Bauern, und die Tiere, und das Landleben! – Man wird’s erleben, man wird’s erleben, wenn ich kein Rindvieh bin. Mir kribbelt’s in den Händen. Ja, das ganze moderne Leben! Fresken wie das Panthéon25 so hoch! Eine verdammte Folge von Gemälden, daß der Louvre platzt!« Sobald der Maler und der Schriftsteller zusammen waren, verfielen sie gewöhnlich in diese Schwärmerei. Sie peitschten sich gegenseitig auf, sie wurden närrisch vor Ruhm; und es herrschte da ein solcher jugendlicher Schwung, eine solche Arbeitsleidenschaft, daß sie dann selber über diese großen, stolzen Träume lächelten, wieder aufgemuntert, gleichsam von neuem geschmeidig und kräftig geworden.

Claude, der nun bis an die Wand zurücktrat, blieb dort angelehnt stehen und gab sich ganz der Betrachtung seines Bildes hin.