Der Dieb
Heym, Georg
Der Dieb
Georg Heym
Der Dieb
Ein Novellenbuch
Der fünfte Oktober
Am 5. Oktober sollten die Brotkarren aus der Provence nach Paris kommen. Der Stadtrat hatte es an allen Straßenecken in seinen großen roten Lettern anschlagen lassen. Und das Volk trieb sich den ganzen Tag vor ihnen herum wie vor den Toren einer neuen und ungeheuren Offenbarung. Ausgehungert bis in die Knochen träumte es da von Paradiesen der Sättigung, ungeheuren Weizenfladen, weißen Mehlpasteten, die in allen Garküchen prasseln würden.
Alle Schlote sollen rauchen. Man wird die Bäcker an die Laternen hängen, man wird selber braten, man wird seinen Arm bis über die Ellenbogen in Mehl tauchen. Das weiße Zeug wird die Straßen wie ein fruchtbarer Schnee überziehen, der Wind wird es vor der Sonne hintreiben wie eine dicke Wolke.
Auf allen Straßen werden große Tische aufgestellt werden, Paris wird ein großes, gemeinsames Mahl abhalten, einen gewaltigen Sabbath.
Die Menschen drängten sich vor den verschlossenen Kellern der Bäckereien und schielten herab auf die leeren Backtröge, die hinter den Gitterfenstern standen, sie sahen vergnügt auf die schwarzen Mäuler der riesigen Backöfen, die ohne Feuer standen, und wie sie, nach Brot hungerten.
An einer Straße eines Viertels am Mont Parnasse wurde eine Bäckerei erbrochen, mehr aus Langerweile, um sich die Zeit zu vertreiben, als aus der Hoffnung, in den Kästen noch Brot zu finden.
Drei Mann, Kohlenträger aus St. Antoine, brachten den Bäcker heraus. Sie warfen ihm seine weiße Perücke hinunter und stellten ihn unter die verbogene Lampe seiner Tür. Der eine riß seinen Hosenbund ab, drehte eine Schlinge und warf sie dem Bäcker um den Hals. Dann hielt er ihm seine schwarze Faust unter das Gesicht und schrie ihn an: »Du verfluchter Mehlwurm, jetzt werden wir dich aufhängen.«
Der Bäcker fing an zu jammern, und sah sich unter den Umstehenden nach Beistand um. Aber er sah nur lauter grinsende Gesichter.
Der Schuster Jacobus trat vor und sagte zu den Vorstädtern: »Meine Herren, wir wollen das Schwein laufen lassen, aber er muß mir erst ein Gebet nachsprechen.«
»Ja, ein Gebet nachsprechen«, wimmerte der Bäcker. »Lassen Sie mich ein Gebet nachsprechen.«
Jacobus fing an: »Ich bin der verfluchte Saubäcker.«
Der Bäcker sprach nach: »Ich bin der verfluchte Saubäcker.«
Jacobus: »Ich bin der schwarze Mehljude, ich stinke auf tausend Meter.«
Der Bäcker: »Ich bin der schwarze Mehljude, ich stinke auf tausend Meter.«
Jacobus: »Ich bete alle Tage zu den vierzehn Nothelfern, daß niemand merken soll, was ich alles in das Brot tue.«
Der Bäcker wiederholte auch das.
Das Publikum wieherte. Eine alte Frau setzte sich auf die Treppenstufen und gackerte vor Lachen wie eine alte Henne beim Eierlegen.
Jacobus konnte selber vor Lachen nicht mehr weiter.
Eine Weile ging dieses komische Anathema noch fort, zuletzt wurde die erbärmliche Gestalt den Leuten zu langweilig. Man ließ ihn stehen mit seinem Strick um den Hals.
Es begann stark zu regnen, die Leute traten unter die Dächer. Der Bäcker war fort. Nur seine weiße Perücke lag noch mitten auf dem Platze und begann, sich im Regen aufzulösen. Ein Hund nahm sie in das Maul und schleppte sie fort.
Allmählich ließ der Regen nach, und die Menschen traten wieder auf die Straße. Der Hunger begann sie wieder zu beißen. Ein Kind fiel in Krämpfe, die Umstehenden sahen zu und gaben gute Ratschläge.
Auf einmal hieß es: »Die Brotkarren sind da! Die Brotkarren sind da!« Die ganze Straße hinab lief das Geschrei. Und die ganze Straße begann, sich aus den Toren hinauszudrängen. Sie kamen an das Land, in die kahlen Felder, sie sahen einen verlassenen Himmel und die lange Reihe von Pappelbäumen der Chaussee, die hinten in dem armseligen Horizont der Ebenen untertauchten. Ein Stoß Raben flog über sie vor dem Winde her, den Städten zu.
Die Menschenströme gossen sich in die Felder. Manche hatten leere Säcke auf den Schultern, andere Fleischermollen, Kessel, um das Brot fortzubringen.
Und sie warteten auf die Karren, den Rand des Himmels durchforschend, wie ein Volk Astronome, das nach einem neuen Gestirn sucht.
Sie harrten und harrten, aber sie sahen nichts als den Wolkenhimmel und den Sturm, der die hohen Bäume hin- und herbog.
Von einer Kirche schlug es in die stummen Massen langsam die Mittagsstunde. Da begannen sie, sich zu besinnen, daß sie sonst um diese Zeit um volle Tische gesessen hatten, auf deren Mitte wie ein dicker König ein weißer Laib Brotes geprangt hatte. Und das Wort »Pain« zwang sich mit seiner ganzen Weiße, seiner Fette, in das Gehirn der Masse, und lag darin wie ein Stein in der Sonne, riesig, groß, knusprig, zum Anschneiden. Sie schlossen die Augenlider, und sie fühlten den Saft des Weizens über ihre Hände tröpfeln. Sie fühlten die Wärme, die heilige Wolke der Backöfen, eine rosige Flamme, die die weißen Brotlaibe röstete und schwärzte.
Und ihre Hände zitterten vor Verlangen nach dem Mehl. Sie fröstelten vor Hunger, und ihre Zungen begannen, im leeren Munde zu kauen, sie begannen, die Luft zu schlucken, und ihre Zähne schlugen willenlos aufeinander, als zermalmten sie die weißen Bissen.
Manchen hingen ihre Sacktücher aus dem Munde, und ihre großen Zähne kauten darauf herum, langsam, wie Maschinen. Sie hatten ihr eingefallenes Auge geschlossen und wiegten ihre Köpfe über ihren Zulp im Takte einer geheimnisvollen, quälerischen Musik.
Andere saßen auf den Prellsteinen an der Straße und weinten vor Hunger, während sich um ihre Knie große magere Hunde herumtrieben, denen die Knochen fast durch das Fell stachen.
Eine schreckliche Müdigkeit befiel die regungslosen Massen, eine ungeheure Apathie fiel lähmend wie eine dicke Decke auf ihre weißen Gesichter.
Ach, sie hatten keinen Willen mehr.
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