Es war ein strenges Haus. Der Herr vertrug und wünschte keine Nähe. Stumme Pflichterfüllung war, was er erwartete, sympathische Beziehung behielt er sich höchstens in der Stille vor. Selbst aufopferndes Bemühen wäre mit dem gefühlausschließenden Hinweis behandelt worden, daß er ja seine Leute bezahlte, im Notfall sogar für das Opfer.
Sie hörte Etzel in seiner Stube auf und ab gehen. Es waren lächerlich kurze Schrittchen. Die Erinnerung an sein emporgerecktes Gesicht mit dem bronzenen Funkeln in der Tiefe der Augen erfüllte sie mit Sorge. Sie dachte: Da ist plötzlich ein Mensch, bis jetzt ist nur ein dummer kleiner Junge dagewesen; wo kommt auf einmal der Mensch her?
Sie kannte ihn so lange. Ein ruhiges Kind; eher beschaulich als lebhaft; leicht lenkbar, weil ohne Gier und Begierden und hauptsächlich ohne Anfälle jener Langeweile (unzureichendes Wort), die manche Kindheit mit rätselhafter Qual belastet. Es war stets ein Hauch von Heiterkeit um ihn. Seine Verständigkeit entbehrte nicht der Komik; Philosoph Dr. Winzig nannte schon den Zwölfjährigen seine Großmutter, die alte Freifrau von Andergast, die seine drolligen Aussprüche bei ihren Bekannten in Umlauf brachte. Die Rie fühlte sich durchaus als eine von Amts wegen eingesetzte Mutter, da die von Gott eingesetzte, über die sie nur Phrasenhaftes, wenn nicht Lügenhaftes wußte, sich ihrer Pflicht entzogen hatte. So sah sie es, beeinflußt vom Klima des Hauses: Pflichterfüllung, Pflichtvergessenheit, das waren die Pole, positiver und negativer, zwischen denen sich die Andergastsche Welt, und das war die Welt schlechthin, bewegte. Etzel war in ihren Augen ein verlassenes Kind, und weil sie ihn betreuen konnte, hatte sie ihn ins Herz geschlossen und glaubte vor allem, ihn zu verstehen. Ein Irrtum, mit dem sie nach ihrer Fasson glücklich war.
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Vermutlich fand auch Herr von Andergast, daß aus dem dummen kleinen Jungen sozusagen über Nacht ein Mensch geworden war, denn Etzels Handlungen, Tageseinteilung, Arbeiten und Lektüre standen unter noch schärferer Kontrolle als früher. Eine Andeutung der Rie über den Zwischenfall mit dem Brief hatte genügt, ihn die Gefahr wittern zu lassen, die von dorther drohte, und er traf seine Maßregeln. Daß man ihm solche Vorkommnisse berichtete, geschah auf Grund des inneren Zwanges, den er auf die Leute seiner Umgebung ausübte; und wenn ein solcher Bericht lückenhaft war, ergänzte er ihn mit der vollendeten Kombinationsgabe, die eine seiner gefürchtetsten und bestechendsten Eigenschaften war. Sie sicherte ihm stets den Vorteil der gedeckten Reserven, die einzusetzen er in der Regel gar nicht mehr genötigt war, wenn er die Begebenheiten und Personen dorthin gelenkt hatte, wo er sie brauchte und wo sie ihm dienten, ohne daß man die Drähte bemerkte, an denen er sie zog. Es war, wie bei einer musterhaften elektrischen Anlage, ein verläßliches Funktionieren von Kontakten, geheimen Leitungen und zeitsparenden Schaltapparaten.
Unter den Wirkungen dieser tadellosen Einrichtung war Etzel aufgewachsen, und seine Nerven hatten sich ihr angepaßt, obwohl sie zuzeiten rebellierten. Er lebte zwischen gläsernen Wänden. Verstöße, die er sich zuschulden kommen ließ, wurden nicht beredet, nicht bedroht, sondern bloß notiert. Es war ein schweigsames System. In der kritischen Lage schienen dann alle Bewohner des Hauses freiwilligen Spionagedienst zu verrichten. Auch Lieferanten, Boten, Briefträger, Amtsdiener waren dem überall spürbaren obersten Willen untertan, der regierte, ohne sein Regiment zu verkünden oder es dem einzelnen besonders einzuschärfen. Sie waren zum Gehorsam gebracht und zur Angeberei dressiert, einfach dadurch, daß er vorhanden war, wuchtig und großartig wie ein Berg.
Das waren Kindheitseindrücke. Seine ganze Kindheit war unter eine luchsäugige, aber verborgene Aufsicht gestellt. Jedem Ding war Aufsicht übertragen. Kalender, Stundenplan, Uhr, Merkbuch, Schulzeugnis: alles ging von der Tabelle aus und strebte zur Festsetzung hin, amtlich starr. Dabei wurde keine Vorschrift ausdrücklich bestimmt oder die Einhaltung äußerlich erzwungen; sie wurde nur still vermittelt, und die eiskalte Selbstverständlichkeit, mit der es geschah, ließ an Widerspruch nicht denken. Die Verrichtungen und die Zeit waren durchätzt von der Vorschrift; Mittagessen: ein Uhr fünfzehn; Abendessen: sieben Uhr dreißig; Bad: Mittwoch und Samstag neun Uhr; Taschengeld: eine Mark per Woche; Umgang mit X.
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