Camill Raff hatte nicht die Gewohnheit, bei jeder Kleinigkeit Lärm zu schlagen; außerdem schonte er Etzel gern; die Rie hatte sein Heimkommen überhaupt nicht bemerkt), ferner, weshalb er ihm das Geständnis auf lauter Umwegen zu entlocken trachtete, statt einfach zu fragen und ihn zur Rede zu stellen. Das war ihm freilich nicht neu. Einfach war nichts in ihrem gegenseitigen Verhältnis; wenn er darüber nachdachte, wurden sogar die Gedanken verzwickt.

Hier muß ich aber, damit in die Beziehung zwischen Vater und Sohn einiges Licht fällt, zuerst erklären, was unter dem »obligaten Gespräch« zu verstehen ist.

2

Sie sahen einander nur im Hause. Herr von Andergast, beruflich bis zur Überlastung beansprucht, unternahm weder Spaziergänge noch besuchte er Theater und Konzerte. Er zeigte sich ungern in der Öffentlichkeit; außer mit einigen engeren Amtskollegen, zum Beispiel dem Landgerichtspräsidenten Sydow und dessen Familie, pflog er fast keinen gesellschaftlichen Verkehr. Geselligkeit war ihm kein Bedürfnis. Offizielle Veranstaltungen, denen er sich nicht entziehen konnte, empfand er als Last. Einmal im Monat besuchte er seine alte Mutter, die Generalin, wie sie kurz genannt wurde, in ihrem Landhaus draußen in Eschersheim. Die Sonn- und Feiertagsnachmittage waren dem Studium aufgesammelter Akten gewidmet.

Mit Etzel täglich zwei Stunden zu verbringen, war jedoch eine Lebenseinrichtung, genau wie das Aktenstudium. Das Programmatische daran, zugleich erzieherische Maßregel, zu verwischen, gehörte zu den gestellten Aufgaben. Es kamen nur die Abendstunden in Betracht. Während des Mittagessens, das ohnehin wegen amtlicher Verhinderung häufig entfiel, waren sie einander geradezu fremd. Die Miene Herrn von Andergasts war verschlossen, hinter der bemerkenswert geistreichen und schön modellierten Stirn haderten noch die Meinungen, die veilchenblauen Augen, in deren Tiefe eine unbewegliche, düstere Glut lag, blickten abweisend. Dazu kam, daß am Mittagessen auch Frau Rie teilnahm, und sosehr Herr von Andergast ihre Nützlichkeit als Vorsteherin des Haushalts anerkannte, so sehr langweilte sie ihn durch ihre »außerdienstliche« Gegenwart. Etzel ging es nicht viel besser mit ihr; er hatte sie gern, unterhielt sich gern mit ihr, aber nur, wenn er mit ihr allein war, in Gegenwart des Vaters und namentlich bei Tisch machte sie ihn nervös bis zum Haß. Sie saß so selbstzufrieden auf ihrem Stuhl, als spende sie sich im stillen ununterbrochen Lobsprüche über die Güte und das Zustandekommen der Mahlzeit nach so vielen Schwierigkeiten, die sie rücksichtsvoll verschwieg. Auch der Appetit, mit dem sie aß, war wie eine stumme Selbstanpreisung; und was sie sagte, war so banal wie die Sätze in einem Lesebuch für Töchterschulen.

Abends blieb sie in ihrem Zimmer. Wenn dann der Tisch abgeräumt war, zündete Herr von Andergast die Zigarre an und entspannte sich durch einen merkbaren Willensakt. Haltung und Miene lockerten sich, niemals bis zum unbeachteten Sichgehenlassen freilich, weit davon; die veilchenblauen Augen hatten aber die verkrochene Glut nicht mehr und erinnerten dann auffallend an die Augen eines naiven jungen Mädchens.

Gewöhnlich begann er mit unverfänglichen Fragen, plänkelte eine Weile, griff ein Thema auf, reizte Etzel zum Widerspruch, fand Vergnügen am Widerspruch, parierte mit fechterischer Gewandtheit, schützte das Überkommene und Bewährte vor verwegenen Reformgelüsten, machte Kompromißvorschläge, war nach hitziger Fehde bereit, eine umstürzlerische Ansicht in der Theorie gelten zu lassen; aber dabei ging es Etzel, obwohl er sich mit Feuer ins Zeug legte, ähnlich wie bei der Vorstellung von der »spielenden« Hand des Vaters, alles war nur wie Spiel, sarkastisches Spiel eines Partners, der aus seiner unvergleichlich stärkeren Position keinen Vorteil ziehen will. Er ist verdammt gescheit, dachte Etzel wütend und voll Hochachtung, man kann ihm nicht beikommen. In seinem naiven Jungeneifer geriet er immer an die Grenze, wo es keine andere Rettung gab als das Paradox, und in dieses stürzte er sich dann tollkühn und unter dem jesuitischen Bedauern seines mit allen Wassern gewaschenen Gegners. »Du bist nicht nur ein Kampfhahn«, sagte Herr von Andergast schließlich und schaute auf seine goldene Deckeluhr, »du steckst auch voller Finten und Schliche, bei dir muß man aufpassen.« Da gaffte Etzel erstaunt und argwöhnisch; gerade dieses Kompliment nicht verdient zu haben, war er sicher.

So oder ähnlich endete die Unterhaltung meistens, unverbindlich und in ein quälendes Vakuum laufend. Punkt halb zehn erhob sich Herr von Andergast mit einer Miene, die nicht mehr die geringste Beziehung zum letztgesprochenen Wort hatte; worauf sich Etzel in etwas alberner Überstürzung zur Tür wandte, die Klinke packte und sich mit dem vagen Lächeln eines Menschen verbeugte, der auf abgefeimte Manier überlistet worden ist. Ja, er kam sich geprellt vor, er konnte nicht sagen, warum, und jedesmal, wenn er aus dem Zimmer ging, fühlte er sich »entlassen«, ungefähr wie nach einem Verweis beim Rektor.

Mußte Herr von Andergast am Abend ausgehen, so erschien er spätnachmittags in Etzels Stube, setzte sich an den Tisch, an dem der Knabe seine Schularbeiten machte, bat ihn, ruhig fortzufahren, und schaute zu. Nach einiger Zeit wurde Etzel befangen, verlor den Faden und stockte. »Was arbeitest du?« fragte Herr von Andergast. Wenn es etwa das mathematische Exerzitium oder der Geschichtsaufsatz war, zeigte sich Herr von Andergast interessiert. Mit seiner überlegenen Rednergabe jedes Wort »bringend«, wie die Schauspieler sagen, pries er eines Tages die geistige Sauberkeit, zu der die Mathematik erziehe, den Zauber der Figur, der reinen Figur nämlich, für den sie empfänglich mache. Sie gewähre, behauptete er, lebendige Anschauung der Naturgesetze, und wie die Krönung einer Kuppel das anscheinend Auseinanderstrebende vereinige, könne sie die höchsten menschlichen Fähigkeiten verbinden und die gegensätzlichsten. Etzel hörte aufmerksam zu, sah aber aus wie ein störrisches Hündchen, das nicht gelaunt ist zu apportieren.