Wohl! Aber wie können Sie kürzer dazu gelangen, als wenn Sie mich Ihres nähern Umganges würdigen? Machen Sie mich zu Ihrem Freunde, stellen Sie mich auf die Probe – –

ADRAST. Sachte! die Probe käme zu spät, wenn ich Sie bereits zu meinem Freunde angenommen hätte. Ich habe geglaubt, sie müsse vorhergehen.

THEOPHAN. Es gibt Grade in der Freundschaft, Adrast; und ich verlange den vertrautesten noch nicht.

ADRAST. Kurz, auch zu dem niedrigsten können Sie nicht fähig sein.

THEOPHAN. Ich kann nicht dazu fähig sein? Wo liegt die Unmöglichkeit?

ADRAST. Kennen Sie, Theophan, wohl ein Buch, welches das Buch aller Bücher sein soll; welches alle unsere Pflichten enthalten, welches uns zu allen Tugenden die sichersten Vorschriften erteilen soll, und welches der Freundschaft gleichwohl mit keinem Worte gedenkt? Kennen Sie dieses Buch?

THEOPHAN. Ich sehe Sie kommen, Adrast. Welchem Collin haben Sie diesen armseligen Einwurf abgeborgt?

ADRAST. Abgeborgt, oder selbst erfunden: es ist gleich viel. Es muß ein kleiner Geist sein, der sich Wahrheiten zu borgen schämt.

THEOPHAN. Wahrheiten! – – Sind Ihre übrigen Wahrheiten von gleicher Güte? Können Sie mich einen Augenblick anhören?

ADRAST. Wieder predigen?

THEOPHAN. Zwingen Sie mich nicht darzu? Oder wollen Sie, daß man Ihre seichten Spöttereien unbeantwortet lassen soll, damit es scheine, als könne man nicht darauf antworten?

ADRAST. Und was können Sie denn darauf antworten?

THEOPHAN. Dieses. Sagen Sie mir, ist die Liebe unter der Freundschaft, oder die Freundschaft unter der Liebe begriffen? Notwendig das letztere. Derjenige also, der die Liebe in ihrem allerweitesten Umfange gebietet, gebietet der nicht auch die Freundschaft? Ich sollte es glauben; und es ist so wenig wahr, daß unser Gesetzgeber die Freundschaft seines Gebotes nicht würdig geschätzt habe, daß er vielmehr seine Lehre zu einer Freundschaft gegen die ganze Welt gemacht hat.

ADRAST. Sie bürden ihm Ungereimtheiten auf. Freundschaft gegen die ganze Welt? Was ist das? Mein Freund muß kein Freund der ganzen Welt sein.

THEOPHAN. Und also ist Ihnen wohl nichts Freundschaft, als jene Übereinstimmung der Temperamente, jene angeborne Harmonie der Gemüter, jener heimliche Zug gegen einander, jene unsichtbare Kette, die zwei einerlei denkende, einerlei wollende Seelen verknüpfet?

ADRAST. Ja, nur dieses ist mir Freundschaft.

THEOPHAN. Nur dieses? Sie widersprechen sich also selbst.

ADRAST. O! daß Ihr Leute doch überall Widersprüche findet, außer nur da nicht, wo sie wirklich sind!

THEOPHAN. Überlegen Sie es. Wenn diese, ohne Zweifel nicht willkürliche, Übereinstimmung der Seelen, diese in uns liegende Harmonie mit einem andern einzelnen Wesen allein die wahre Freundschaft ausmacht: wie können Sie verlangen, daß sie der Gegenstand eines Gesetzes sein soll? Wo sie ist, darf sie nicht geboten werden; und wo sie nicht ist, da wird sie umsonst geboten. Und wie können Sie es unserm Lehrer zur Last legen, daß er die Freundschaft in diesem Verstande übergangen hat? Er hat uns eine edlere Freundschaft befohlen, welche jenes blinden Hanges, den auch die unvernünftigen Tiere nicht missen, entbehren kann: eine Freundschaft, die sich nach erkannten Vollkommenheiten mitteilet; welche sich nicht von der Natur lenken läßt, sondern welche die Natur selbst lenket.

ADRAST. O Geschwätze!

THEOPHAN. Ich muß Ihnen dieses sagen, Adrast, ob Sie es gleich eben so wohl wissen könnten, als ich; und auch wissen sollten. Was würden Sie selbst von mir denken, wenn ich den Verdacht nicht mit aller Gewalt von mir abzulenken suchte, als mache mich die Religion zu einem Verächter der Freundschaft, die Religion, die Sie nur allzugern aus einem wichtigen Grunde verachten möchten? – – Sehen Sie mich nicht so geringschätzig an; wenden Sie sich nicht auf eine so beleidigende Art von mir – –

ADRAST bei Seite.