Meinen schlimmsten Feind hatte ich damals noch gar nicht ins Auge gefaßt.«

»Ich gestehe,« rief Lord Seymour, »daß dies vorsichtig gehandelt heißt – aber warum mußten wir ausgekleidet sein?«

»Bloß um der Handlung eine Feierlichkeit mehr zu geben und durch das Ungewöhnliche Ihre Einbildungskraft zu spannen.«

»Die zweite Erscheinung ließ Ihren Geist nicht zum Worte kommen,« sagte der Prinz. »Was hätten wir eigentlich von ihm erfahren sollen?«

»Beinahe dasselbe, was Sie nachher gehört haben. Ich fragte Eure Durchlaucht nicht ohne Absicht, ob Sie mir auch alles gesagt, was Ihnen der Sterbende aufgetragen, und ob Sie keine weitern Nachfragen wegen seiner in seinem Vaterlande getan; dieses fand ich nötig, um nicht gegen Tatsachen anzustoßen, die der Aussage meines Geistes hätten widersprechen können. Ich fragte gewisser Jugendsünden wegen, ob der Verstorbene untadelhaft gelebt, und auf die Antwort gründete ich alsdann meine Erfindung.«

»Über diese Sache,« fing der Prinz nach einigem Stillschweigen an, »haben Sie mir einen befriedigenden Aufschluß gegeben. Aber ein Hauptumstand ist noch zurück, worüber ich Licht von Ihnen verlange.«

»Wenn es in meiner Gewalt steht, und –«

»Keine Bedingungen! Die Gerechtigkeit, in deren Händen Sie sind, dürfte so bescheiden nicht fragen. Wer war dieser Unbekannte, vor dem wir Sie niederstürzen sahen? Was wissen Sie von ihm? Woher kennen Sie ihn? Und was hat es für eine Bewandtnis mit dieser zweiten Erscheinung?«

»Gnädigster Prinz –«

»Als Sie ihm näher ins Gesicht sahen, stießen Sie einen lauten Schrei aus und stürzten nieder. Warum das? Was bedeutete das?«

»Dieser Unbekannte, gnädigster Prinz –« Er hielt inne, wurde sichtbarlich unruhiger und sah uns alle in der Reihe herum mit verlegenen Blicken an. – »Ja, bei Gott, gnädigster Prinz, dieser Unbekannte ist ein schreckliches Wesen.«

»Was wissen Sie von ihm? Wie steht er mit Ihnen in Verbindung? – Hoffen Sie nicht, uns die Wahrheit zu verhehlen.« –

»Dafür werd' ich mich wohl hüten – denn wer steht mir dafür, daß er nicht in diesem Augenblick unter uns stehet?«

»Wo? Wer?« riefen wir alle zugleich und schauten uns halb lachend, halb bestürzt im Zimmer um. – »Das ist ja nicht möglich.«

»Oh! diesem Menschen – oder wer er sein mag – sind Dinge möglich, die noch weit weniger zu begreifen sind.«

»Aber wer ist er denn? Woher stammt er? Armenier oder Russe? Was ist das Wahre an dem, wofür er sich ausgibt?«

»Keines von allem, was er scheint. Es wird wenige Stände, Charaktere und Nationen geben, davon er nicht schon die Maske getragen. Wer er sei? Woher er gekommen? Wohin er gehe? weiß niemand. Daß er lang in Ägypten gewesen, wie viele behaupten, und dort aus einer Pyramide seine verborgene Weisheit geholt habe, will ich weder bejahen noch verneinen. Bei uns kennt man ihn nur unter dem Namen des Unergründlichen. Wie alt, zum Beispiel, schätzen Sie ihn?«

»Nach dem äußern Anschein zu urteilen, kann er kaum vierzig zurückgelegt haben.«

»Und wie alt denken Sie, daß ich sei?«

»Nicht weit von funfzig.«

»Ganz recht – und wenn ich Ihnen nun sage, daß ich ein Bursche von siebenzehn Jahren war, als mir mein Großvater von diesem Wundermann erzählte, der ihn ungefähr in eben dem Alter, worin er jetzt zu sein scheint, in Famagusta gesehen hat –«

»Das ist lächerlich, unglaublich und übertrieben.«

»Nicht um einen Zug. Hielten mich diese Fesseln nicht ab, ich wollte Ihnen Bürgen stellen, deren ehrwürdiges Ansehen Ihnen keinen Zweifel mehr übrig lassen würde. Es gibt glaubwürdige Leute, die sich erinnern, ihn in verschiedenen Weltgegenden zur gleichen Zeit gesehen zu haben. Keines Degens Spitze kann ihn durchbohren, kein Gift kann ihm etwas anhaben, kein Feuer sengt ihn, kein Schiff geht unter, worauf er sich befindet. Die Zeit selbst scheint an ihm ihre Macht zu verlieren, die Jahre trocknen seine Säfte nicht aus, und das Alter kann seine Haare nicht bleichen. Niemand ist, der ihn Speise nehmen sah, nie ist ein Weib von ihm berührt worden, kein Schlaf besucht seine Augen; von allen Stunden des Tages weiß man nur eine einzige, über die er nicht Herr ist, in welcher niemand ihn gesehen, in welcher er kein irdisches Geschäft verrichtet hat.«

»So?« sagte der Prinz. »Und was ist dies für eine Stunde?«

»Die zwölfte in der Nacht. Sobald die Glocke den zwölften Schlag tut, gehört er den Lebendigen nicht mehr. Wo er auch sein mag, er muß fort, welches Geschäft er auch verrichtet, er muß es abbrechen. Dieser schreckliche Glockenschlag reißt ihn aus den Armen der Freundschaft, reißt ihn selbst vom Altar und würde ihn auch aus dem Todeskampf rufen. Niemand weiß, wo er dann hingehet, noch was er da verrichtet. Niemand wagt es, ihn darum zu befragen, noch weniger, ihm zu folgen; denn seine Gesichtszüge ziehen sich auf einmal, sobald diese gefürchtete Stunde schlägt, in einen so finstern und schreckhaften Ernst zusammen, daß jedem der Mut entfällt, ihm ins Gesicht zu blicken oder ihn anzureden. Eine tiefe Todesstille endigt dann plötzlich das lebhafteste Gespräch, und alle, die um ihn sind, erwarten mit ehrerbietigem Schaudern seine Wiederkunft, ohne es nur zu wagen, sich von der Stelle zu heben oder die Türe zu öffnen, durch die er gegangen ist."

»Aber,« fragte einer von uns, »bemerkt man nichts Außerordentliches an ihm bei seiner Zurückkunft?«

»Nichts, als das er bleich und abgemattet aussieht, ungefähr wie ein Mensch, der eine schmerzhafte Operation ausgestanden, oder eine schreckliche Zeitung erhält. Einige wollen Blutstropfen auf seinem Hemde gesehen haben; dieses aber lasse ich dahingestellt sein.«

»Und man hat es zum wenigsten nie versucht, ihm diese Stunde zu verbergen, oder ihn so in Zerstreuung zu verwickeln, daß er sie übersehen mußte?«

»Ein einziges Mal, sagt man, überschritt er den Termin. Die Gesellschaft war zahlreich, man verspätete sich bis tief in die Nacht, alle Uhren waren mit Fleiß falsch gerichtet, und das Feuer der Unterredung riß ihn dahin. Als die gesetzte Stunde da war, verstummte er plötzlich und wurde starr, alle seine Gliedmaßen verharrten in der selben Richtung, worin dieser Zufall sie überraschte, seine Augen standen, sein Puls schlug nicht mehr, alle Mittel, die man anwendete, ihn wieder zu erwecken, waren fruchtlos; und dieser Zustand hielt an, bis die Stunde verstrichen war. Dann belebte er sich plötzlich von selbst wieder, schlug die Augen auf und fuhr in der nämlichen Silbe fort, worin er war unterbrochen worden. Die allgemeine Bestürzung verriet ihm, was geschehen war, und da erklärte er mit einem fürchterlichen Ernst, daß man sich glücklich preisen dürfte, mit dem bloßen Schrecken davongekommen zu sein.