Endlich schüttelte der Archidiakonus Quasimodos gewaltige Schulter und gab ihm ein Zeichen zu folgen. Quasimodo stand auf; da aber wollte, nachdem das erste Staunen vorüber war, die Narrenbruderschaft ihren mit so wenig Umständen entthronten Papst verteidigen. Die Ägypter, die Kauderwelschen und alle Parlamentsschreiber umringten lärmend den Priester. Quasimodo stellte sich hinter ihn, ließ seine Muskeln in athletischer Stellung spielen und knirschte wie ein wütender Tiger mit den Zähnen. Dann nahm der Priester seinen düsteren Ernst im Ausdruck wieder an, gab Quasimodo ein Zeichen und entfernte sich schweigend. Dieser ging voran und bahnte ihm den Weg, die Menge verteilend.
Nachdem sie das Volk und den Platz durchschritten hatten, wollte ein Schwarm Neugieriger und Müßiggänger ihnen folgen. Da bildete Quasimodo die Nachhut und folgte, rückwärtsblickend, bissig starrend, seine Glieder gleichsam nachschleppend, dem Archidiakonus. Er bleckte die Zähne, brüllte wie ein wildes Tier und bewirkte häufig mit einer Bewegung oder einem Blick ein schnelles und zitterndes Schwanken in der Volksmenge.
Man ließ sie beide in eine enge und dunkle Gasse dringen, wohin niemand ihnen zu folgen wagte.
„Sehr sonderbar!“ sagte Gringoire, „wo kriege ich aber ein Abendessen her?“
10. Entstehende Ungelegenheiten, wenn man einem hübschen Mädchen des Nachts in den Straßen nachläuft
Gringoire entschloß sich, ereigne sich, was da wolle, der Zigeunerin zu folgen. Er sah, wie sie mit ihrer Ziege den Weg nach der Straße de la Coutellerie einschlug, und nahm denselben Weg. Warum nicht? dachte er bei sich selbst. Nie ist man besser aufgelegt, einem schönen Mädchen zu folgen, als wenn man nicht weiß, wo man schlafen soll. So wandelte er sinnend hinter den Zigeunerin her, die ihre Schritte beschleunigte und die Ziege zum Laufen zwang; denn sie sah, daß die Bürger heimkehrten, und daß die Schenken, die allein von allen Budiken an dem Tage offenstanden, geschlossen wurden. Sie muß doch irgendwo wohnen, dachte er; die Zigeuner sind gutmütig. Wer weiß? … Und die Gedankenreihe, die allmählich dadurch hervorgerufen wurde, war sehr anmutig.
Die Straßen wurden dunkler und einsamer; die Abendglocke hatte schon lange geläutet, und in immer größeren Zwischenräumen erblickte man einen Vorübergehenden auf den Straßen, ein Licht an einem Fenster. Das junge Mädchen verfolgte einen Weg, der Gringoire wohlbekannt zu sein schien. Sie wandelte ohne Aufenthalt mit stets schnelleren Schritten. Seit einigen Augenblicken hatte er ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Voll Unruhe wandte sie verschiedene Male ihr Haupt; einmal blieb sie sogar stehen, benutzte einen Lichtstrahl, der aus einer Bäckerei hervordrang, um ihn von oben bis unten zu betrachten. Da sah Gringoire, wie sie das Mäulchen zog, was er schon bemerkt hatte, und weiterging. Dieses Mäulchen gab Gringoire Stoff zum Nachdenken. Gewiss lag in dieser anmutsvollen Fratze Verachtung und Spott. So hielt er sich denn in größerer Entfernung von dem schönen Mädchen. Plötzlich, als sie hinter einer Straßenecke verschwunden war, vernahm er, wie sie einen durchdringenden Schrei ausstieß. Da beschleunigte er seine Schritte. Die Straße war dunkel; dennoch erlaubte ihm das mit Öl getränkte Werg, welches in eisernem Käfig am Winkel der Straßen zu den Füßen der heiligen Jungfrau brannte, die Zigeunerin zu erkennen, wie sie gegen zwei Männer rang, die sie ergriffen hatten und ihren Schrei zu ersticken strebten. Die arme kleine Ziege senkte erschrocken die Hörner und meckerte.
„Herbei, ihr Herren Wächter!“ rief Gringoire und schritt kühn vorwärts. Einer der Männer, die das junge Mädchen hielten, wandte sich nach ihm um; es war die furchtbare Gestalt Quasimodos.
Gringoire ergriff nicht die Flucht, tat aber auch keinen Schritt vorwärts. Quasimodo ging auf ihn zu, warf ihn mit geballter Faust vier Schritte zurück aufs Pflaster, stürzte schnell ins Dunkel und trug das Mädchen auf einem Arme, geknickt, als wäre es eine Seidenschärpe, fort. Sein Gefährte folgte, und die arme Ziege lief mit klagendem Meckern hinterdrein.
„Mörder! Mörder!“ rief die unglückliche Zigeunerin.
„Halt, Elende! Laßt das Mädel los!“ rief plötzlich mit einer Donnerstimme ein Reiter, der aus einem nahen Kreuzwege herbeisprengte.
1 comment