Es war offenbar: Der Glöckner mußte während einer bestimmten Zeit dem Priester dienen, und nahm dann als Bezahlung dessen Seele mit von dannen. Auch stand der Archidiakonus, ungeachtet seines übermäßig strengen Lebens, in schlechtem Geruch bei den frommen Seelen. Jede fromme und erfahrene Nase witterte in ihm den Zauberer.

Der Archidiakonus mit seinem Glöckner war, wie wir schon sagten, bei den hohen und niederen Bewohnern der Umgegend des Doms eben nicht beliebt. Wenn Claude und Quasimodo zusammen ausgingen, wie das oft geschah, wenn man sie dann in Gesellschaft vorüberwandeln sah, wie der Diener dem Herrn folgte, und beide die schmutzigen, engen, düsteren Straßen der Umgegend von Notre-Dame durchschnitten, neckte sie manch böses Wort, mancher beleidigende Witz im Vorübergehen, wenn Claude Frollo, was freilich selten geschah, nicht mit erhobenem Haupte einherschritt und seine strenge, fast erhabene Stirn den verlegenen Witzbolden zeigte.

Bald war es ein tückischer Knabe, der Haut und Knochen daran wagte, das unaussprechliche Vergnügen zu haben, eine Nadel in Quasimodos Höcker zu stecken; bald ein schönes junges und nur zu freches Mädchen, das an des Priesters schwarzem Kleide vorbeistreifte und ihm lachend das spöttische Lied ins Gesicht sang:

„Man fing den Teufel zum Schabernack.“

Bald brummte laut eine schmutzige Gruppe alter Weiber auf den Stufen einer Halle, wenn der Archidiakonus mit dem Glöckner vorüberging, und warf ihnen fluchend den ermutigenden Willkommen zu: der da hat eine Seele, wie der andere einen Leib; oder eine Bande Studenten oder Schulknaben, die Hinkebein spielten, begrüßten sie auf klassische Weise: Eia, Claudius cum Claudio!*

* Lateinisch: Ei, sieh da, Claude mit einem Lahmen.

Jedoch ward die Beleidigung gewöhnlich weder von dem Priester, noch von dem Glöckner bemerkt. Um diese anmutigen Dinge hören zu können, war Quasimodo zu taub und Claude zu sehr in Nachsinnen versunken.

18. Abbas Beati Martini

Der Ruf Dom Claudes hatte sich weithin verbreitet und trug ihm einen Besuch ein, den er noch lange in Erinnerung behielt. Eines Abends begab er sich nach dem Meßamte in seine kanonische Zelle des Klosters Notre-Dame; diese zeigte nichts Geheimes noch Auffallendes, mit Ausnahme einiger in den Winkel gestellter Gläser mit einem zweideutigen Pulver, das dem Schießpulver sehr ähnlich war. Nur hin und wieder sah man einige Inschriften an der Wand, aber dies waren lediglich fromme oder wissenschaftliche Sprüche aus guten Schriftstellern. Der Archidiakonus hatte sich beim Schein einer geschnäbelten Kupferlampe an ein mit Manuskripten bedecktes Pult gesetzt. Er stützte den Ellenbogen auf das aufgeschlagene Buch des Honorius von Autun: De libero arbitrio et praedestinatione**, und blätterte, tief sinnend, in einem soeben herangetragenen Folianten, dem einzigen Presseerzeugnis, das seine Zelle enthielt. Mitten in seiner Träumerei vernahm er Klopfen an der Tür. „Wer da?“ rief der Gelehrte mit dem anmutigen Tone eines hungrigen Bullenbeißers, den man beim Benagen seines Knochens stört. Eine Stimme erwiderte draußen: „Euer Freund Jacques Coictier.“ Claude stand auf, zu öffnen. Wirklich war es des Königs Arzt; ein ungefähr fünfzigjähriger Mann, dessen harter Gesichtsausdruck nur durch einen schlauen Blick gemildert ward. Ihn begleitete ein anderer Mann. Beide trugen ein langes, schiefergraues, mit grauem Pelz besetztes Kleid mit Gürtel und Mütze aus demselben Stoff und von derselben Farbe. Ihre Hände verschwanden in den Ärmeln, ihre Füße unter dem Gewande, ihre Augen unter den Mützen.

** Lateinisch: Über den freien Willen und die Vorherbestimmung.

„Gott schütze euch, ihr Herren“, sprach der Diakonus, sie in das Gemach führend; „ich erwartete nicht, einen so ehrenvollen Besuch zu solcher Stunde und auf so höfliche Weise zu erhalten.“ So redend, richtete er einen unruhigen forschenden Blick auf den Arzt und dessen Begleiter.

„Nie ist es zu spät, einen so großen Gelehrten wie Dom Claude Frollo von Tirechappe zu besuchen“, erwiderte der Doktor Coictier, dessen Aussprache (er war aus der Franche-Comté gebürtig) seine Phrasen mit der Majestät eines Schleppenkleides hinschleifen ließ.

Hierauf begann zwischen dem Arzt und dem Archidiakonus ein Wechsel höflicher Redensarten, wie sie damals als Eingang jeder Unterhaltung zwischen Gelehrten üblich waren. Claudes Glückwünsche zielten hauptsächlich auf die zahlreichen zeitlichen Vorteile, die der würdige Arzt während seiner so sehr beneideten Laufbahn aus jeglicher Krankheit des Königs zu ziehen wußte; denn er übte eine bessere und sichere Alchimie, als das Aufsuchen des Steines der Weisen.

„Wahrhaftig, Herr Doktor Coictier, ich freue mich sehr, zu vernehmen, daß Euer Neffe, der ehrwürdige Herr Pierre Versé, die Bischofswürde erhielt. Nicht wahr, er ist Bischof von Amiens?“ „Ja, Herr Archidiakonus; durch die Gnade und das Erbarmen Gottes.“ – „Wie weit ist der Bau Eures prächtigen Hauses? Das wird ein zweiter Louvre.“ – „Ach, Meister Dom Claude, der Bau kostet mich viel Geld. Je mehr er fortschreitet, desto mehr richte ich mich zugrunde.“ In den Höflichkeiten, die Dom Claude auf solche Weise an Jacques Coictier richtete, lag der sardonische, scharfe, spöttische Ton, das grausame, listige Lächeln eines überlegenen, aber unglücklichen Mannes, der zur Zerstreuung einen Augenblick mit dem fetten Wohlbehagen eines gewöhnlichen Menschen spielt. Der andere bemerkte es nicht.

„Bei meiner Seele“, sprach Claude endlich, ihm die Hand drückend, „es ist mir lieb, Euch so gesund zu sehen.“ – „Danke Meister Claude.“ – „Wie geht’s Eurem königlichen Kranken?“ – „Er bezahlt seinen Arzt sehr schlecht“, sprach Coictier, indem er einen Seitenblick auf seinen Gefährten warf. – „Meint Ihr, Gevatter Coictier?“ fragte dieser. Diese mit dem Tone des Vorwurfs und des Erstaunens ausgesprochenen Worte lenkten schnell die Aufmerksamkeit des Archidiakonus auf den Unbekannten.

„Dom Claude, ich bringe Euch hier einen Gevatter, der wegen Eures Rufes mit Euch Bekanntschaft zu machen wünscht.“

„Der Herr ist auch Gelehrter?“ fragte der Archidiakonus, indem er einen durchdringenden Blick auf Coictiers Gefährten heftete. Unter den Brauen des Unbekannten bemerkte er aber weniger scharfe als argwöhnische Blicke. Soweit er beim schwachen Schein der Lampe ihn prüfen konnte, war es ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, von mittlerer Größe, der ziemlich krank und gebrochen zu sein schien. Sein Profil bildete eine mehr bürgerliche Linie, hatte aber einen mächtigen und strengen Ausdruck; sein Augapfel funkelte unter hochgewölbten Brauen und glich einem Licht im Grunde einer Höhle; unter der übergeschlagenen und fast bis auf die Nase fallenden Mütze ahnte man eine hohe, gewölbte Stirn.

Er brachte es über sich, auf die Frage des Archidiakonus selbst zu antworten. „Ehrwürdiger Meister“, sagte er mit ernstem Ton, „Euer Ruf ist bis zu mir gedrungen, und ich möchte Euch um Rat fragen. Ich bin nur ein armer Edelmann aus der Provinz, der die Schuhe auszieht, bevor er bei Gelehrten eintritt. Ihr müßt meinen Namen erfahren. Ich heiße Gevatter Tourangeau.“

Sonderbarer Name für einen Edelmann, dachte der Archidiakonus.