Es war mehr denn je die prosaische, gemeine Wirklichkeit einer Schenke. Wenn wir uns nicht im fünfzehnten Jahrhunderte befänden, möchte man behaupten, Gringoire wäre aus demjenigen Michel Angelo's in dasjenige Callots gerathen.
Um ein großes Feuer, das auf einer mächtigen, runden Steinplatte brannte, und dessen Flammen durch die erglühten Stäbe eines augenblicklich leeren Dreifußes schlugen, waren einige wurmstichige Tische hier und da, aufs Gerathewohl aufgestellt, ohne daß der geringste Feldmessergehilfe es für nöthig gehalten hätte, ihre gleichen Seiten zusammenzupassen, oder dafür Sorge zu tragen, daß sie wenigstens nicht an zu ungleichen Ecken aneinander stießen. Auf diesen Tischen blinkten mehrere von Wein und Bier triefende Krüge, und um diese herum saßen viele bacchantische Gesichter, die vom Wein und Feuer geröthet waren. Hier saß ein dickbauchiger Kerl mit jovialem Gesichte, der ein stattliches volles Freudenmädchen stürmisch umarmte; dort wickelte eine Art falscher Soldat – ein Schlaumeier, wie man es in der Gaunersprache nannte – pfeifend die Binden von seiner falschen Wunde und machte sein gesundes und starkes Knie, welches seit dem Morgen in zahllose Verbände eingeschnürt war, wieder gelenke. Als Gegenstück machte ein Siecher mit Schöllkraut und Ochsenblut sein »Gottesbein« für den nächsten Tag fertig. Zwei Tische weiter buchstabirte ein Pilger in vollständigem Pilgerkleide das Klagelied auf die Himmelskönigin, ohne die Eintönigkeit und das Näseln dabei zu vergessen. An einem andern Platze nahm ein junger Strauchdieb Unterricht in der Epilepsie bei einem alten Bettler, der Krämpfe zu heucheln verstand, und der ihn in der Kunst unterwies, mit einem zerkauten Stück Seife Schaum am Munde hervorzubringen. Daneben machte sich ein Wassersüchtiger von seiner Geschwulst frei, und veranlaßte vier oder fünf Diebesweiber, die sich an demselben Tische um ein am Abende gestohlenes Kind zankten, sich die Nase zuzuhalten. Alles das waren Umstände, die zweihundert Jahre später, wie Sauvel sagt, »dem Hofe so spaßhaft erschienen, daß sie dem Könige zum Zeitvertreibe und als Scene im königlichen Ballet ›Die Nacht‹ dienten, das in vier Abtheilungen auf dem Theater Petit-Bourbon getanzt wurde«. »Niemals,« fügt ein Augenzeuge von 1653 hinzu, »sind die plötzlichen Verwandlungen des Wunderhofes mit mehr Glück dargestellt worden. Benserade bereitete uns in recht niedlichen Versen darauf vor.«
Lautes Lachen und unzüchtige Lieder erschollen von allen Seiten. Jeder wurde anmaßend, machte boshafte Bemerkungen und fluchte, ohne auf seinen Nachbar zu hören. Die Krüge erklangen, Streit erhob sich beim Anstoßen mit denselben, und die schartigen Humpen zerrissen die Lumpen der Zänker.
Ein großer Hund, der auf seinem Hintertheil saß, stierte ins Feuer. Kinder fehlten gleichfalls nicht bei dieser Orgie. Der gestohlene Knabe weinte und schrie. Ein anderer dicker Bursche von vier Jahren saß mit herabhängenden Beinen auf einer zu hohen Bank hinter einem Tische, der ihm bis ans Kinn reichte, und sprach kein Wort. Ein dritter knetete emsig mit dem Finger den schmelzenden Talg, welcher von einem Lichte auf den Tisch herabtropfte. Ein Kleiner schließlich kauerte im Schmutz, fast ganz von einem Kessel verdeckt, an dem er mit einem Steine schabte und einen Ton hervorbrachte, um einen Stradivarius in Ohnmacht fallen zu lassen.
Ein Faß stand neben dem Feuer, und ein Bettler saß auf demselben. Es war der König auf seinem Throne.
Die drei, welche Gringoire festhielten, führten ihn vor dieses Faß, und augenblickliche Stille trat in der wüsten Versammlung ein; nur das Kind am Kessel spielte weiter.
Gringoire wagte weder zu athmen, noch die Augen aufzuschlagen.
»Hombre, quita tu sombrero!« sagte einer der drei Strolche, welche ihn hielten; und bevor er verstanden hatte, was er sagen wollte, hatte ihm der andere schon den Hut vom Kopfe gerissen. Freilich war der Hut nur eine miserable Krempe, aber immer noch gut genug gegen Sonnenbrand und Regen. Gringoire seufzte.
Jetzt richtete der König von der Höhe seines Fasses das Wort an ihn.
»Wer ist dieser Halunke?«
Gringoire erschrak. Diese Worte, wiewohl im drohenden Tone ausgesprochen, erinnerten ihn an eine andere Stimme, welche ja heute Morgen seinem Schauspiele den ersten Schlag dadurch versetzt hatte, daß sie mit näselndem Tone in die Zuhörerschaft hineinrief: »Ein Almosen, ich bitte Euch!« Er hob den Kopf. Es war in der That Clopin Trouillefou.
Clopin Trouillefou, mit seinen königlichen Insignien bekleidet, hatte keinen Lumpen mehr oder weniger an sich. Die Wunde am Arme war schon verschwunden. In der Hand hielt er eine jener Riemenpeitschen aus weißem Leder, wie sie damals die Straßenpolizisten gebrauchten, um die Menge in Ordnung zu halten, und die man »neunschwänzige Katzen« nannte. Auf dem Kopfe trug er eine Art gereiften, oben geschlossenen Kopfputz; aber es war schwer zu erkennen, ob es einen Fallhut oder eine Königskrone vorstellen sollte, so sehr gleichen sich ja die beiden Gegenstände.
Indessen hatte Gringoire, ohne zu wissen warum, wieder einige Hoffnung geschöpft, als er im Könige des Wunderhofes seinen verwünschten Bettler aus dem großen Saale erkannte.
»Meister ...« stotterte er. »Gnädiger Herr ... Sire ... Wie soll ich Euch nennen?« sprach er endlich, als er auf dem Höhepunkte seiner Gefühlssteigerung angelangt war und nicht vorwärts noch rückwärts mehr wußte.
»Gnädiger Herr, Seine Majestät oder Kamerad, nenne mich, wie du willst. Aber beeile dich! Was hast du zu deiner Vertheidigung zu sagen?«
Zu deiner Vertheidigung? dachte Gringoire, das gefällt mir nicht.
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