Der goldene Spiegel

Wieland, Christoph Martin

Der goldene Spiegel

 

Die große eBook-Bibliothek der Weltliteratur

 

Christoph Martin Wieland

Der goldne Spiegel oder

Die Könige von Scheschian

Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt

– – Inspicere tanquam
In speculum jubeo –

 

Zueignungsschrift des sinesischen Übersetzers an den Kaiser Tai-Tsu

 

Glorwürdigster Sohn des Himmels!

Ihrer Majestät lebhaftestes Verlangen ist Ihre Völker glücklich zu sehen. Dies ist das einzige Ziel Ihrer unermüdeten Bemühungen; es ist der große Gegenstand Ihrer Beratschlagungen, der Inhalt Ihrer Gesetze und Befehle, die Seele aller löblichen Unternehmungen, die Sie anfangen und – ausführen, und das, was Sie von allem Bösen abhält, welches Sie nach dem Beispiel andrer Großen der Welt tun könnten, und – nicht tun.

Wie glücklich müßten Sie selbst sein, Bester der Könige, wenn es gleich leicht wäre, ein Volk glücklich zu wünschen, und es glücklich zumachen! wenn Sie, wie der König des Himmels, nur wollen dürften, um zu vollbringen, nur sprechen, um Ihre Gedanken in Werke verwandelt zu sehen!

Aber wie unglücklich würden Sie vielleicht auch sein, wenn Sie wissen sollten, in welcher Entfernung, bei allen Ihren Bemühungen, die Ausführung hinter Ihren Wünschen zurück bleibt! Die unzählige Menge der Gehilfen von so mancherlei Klassen, Ordnungen und Arten, unter welche Sie genötiget sind Ihre Macht zu verteilen, weil auch den unumschränktesten Monarchen die Menschheit Schranken setzt; die Notwendigkeit, sich beinahe in allem auf die Werkzeuge Ihrer wohltätigen Wirksamkeit verlassen zu müssen, macht Sie – erschrecken Sie nicht vor einer unangenehmen aber heilsamen Wahrheit! – macht Sie zum abhänglichsten aller Bewohner Ihres unermeßlichen Reiches. Nur zu oft steht es in der Gewalt eines Ehrgeizigen, eines Heuchlers, eines Rachgierigen, eines Unersättlichen, – doch, wozu häufe ich die Namen der Leidenschaften und Laster, da ich sie alle in Einem Worte zusammen fassen kann? eines Menschen – in Ihrem geheiligten Namen gerade das Gegenteil von Ihrem Willen zu tun! An jedem Tage, in jeder Stunde, beinahe dürft ich sagen in jedem Augenblick Ihrer Regierung, wird in dem weiten Umfang Ihrer zahlreichen Provinzen irgend eine Ungerechtigkeit ausgeübt, ein Gesetz verdreht, ein Befehl übertrieben oder ihm ausgewichen, ein Unschuldiger unterdrückt, ein Waise beraubt, ein Verdienstloser befördert, ein Bösewicht geschützt, die Tugend abgeschreckt, das Laster aufgemuntert.

Was für ein Ausdruck von Entsetzen würde mir aus den Blicken Ihrer Höflinge entgegen starren, wenn sie mich so verwegen reden hörten! Wie sollt es möglich sein, daß unter einem so guten Fürsten das Laster sein Haupt so kühn empor heben, und ungestraft so viel Böses tun dürfte? Die bloße Voraussetzung einer solchen Möglichkeit scheint eine Beleidigung Ihres Ruhmes, eine Beschimpfung Ihrer glorreichen Regierung zu sein. – Vergeben Sie, Gnädigster Oberherr! Ungestraft, aber nicht öffentlich und triumphierend, hebt das Laster sein Haupt empor; denn das Angesicht, das es zeigt, ist nicht sein eigenes; es nimmt die Gestalt der Gerechtigkeit, der Gnade, des Eifers für Religion und Sitten, der Wohlmeinung mit dem Fürsten und dem Staate, kurz die Gestalt jeder Tugend an, von welcher es der ewige Feind und Zerstörer ist. Seine Geschicklichkeit in dieser Zauberkunst ist unerschöpflich, und kaum ist es möglich, daß die Weisheit des besten Fürsten sich gegen ihre Täuschungen hinlänglich verwahren könnte. Ihre Majestät glaubten vielleicht das Urteil eines Übeltäters zu unterschreiben, und unterschrieben den Sturz eines Tugendhaften, dessen Verdienste sein einziges Verbrechen waren. Sie glaubten einen ehrlichen Mann zu befördern, und beförderten einen schändlichen Gleisner. Doch, dies sind Wahrheiten, wovon Sie nur zu sehr überzeugt sind. Sie beklagen das unglückliche Los Ihres Standes. Wem soll man glauben? Tugend und Laster, Wahrheit und Betrug haben einerlei Gesicht, reden einerlei Sprache, tragen einerlei Farbe; ja, der feine Betrüger (das schädlichste unter allen schädlichen Geschöpfen) weiß das äußerliche Ansehen gesunder Grundsätze und untadeliger Sitten gemeiniglich besser zu behaupten als der redliche Mann. Jener ist es, der die Kunst ausgelernt hat, seine Leidenschaften in die innersten Höhlen seines schwarzen Herzens zu verschließen, der am besten schmeicheln, am behendesten sich jeder Vorteile bedienen kann, die ihm die schwache Seite seines Gegenstandes zeigt. Seine Gefälligkeit, seine Selbstverleugnung, seine Tugend, seine Religion kostet ihm nichts; denn sie ist nur auf seinen Lippen, und in den äußerlichen Bewegungen, die sein Inwendiges verbergen: er hält sich reichlich für seine Verstellung entschädiget, indem er unter dieser Maske jeder bösartigen Leidenschaft genug tun, jeden niederträchtigen Anschlag ausführen, und mit einer ehernen Stirne noch Belohnung für seine Übeltaten fodern kann. Ist es zu verwundern, o Sohn des Himmels, daß so viele sind, die alle andere Talente verabsäumen, alle rechtmäßige und edle Wege zu Ansehen und Glück vorbei gehen, und mit aller ihrer Fähigkeit allein dahin sich bestreben, es in der Kunst zu betrügen zur Vollkommenheit zu bringen?

Aber wie? Sollte der Fürst, der die Wahrheit liebt, wiewohl auf allen Seiten mit Larven und Blendwerken umgeben, verzweifeln müssen, jemals ihr unverfälschtes Antlitz von dem geschminkten Betrug unterscheiden zu können? Das verhüte der Himmel! Wer die Wahrheit aufrichtig liebt (und was kann ohne sie liebenswürdig sein?), wer auch als dann sie liebt, wenn sie nicht schmeichelt, der hat nur geübte Augen vonnöten, um ihre feineren Züge zu unterscheiden, welche selten so gut nachgemacht werden können, daß die Kunst sich nicht verraten sollte. Und um diese geübten Augen zu bekommen – ohne welche das beste Herz uns nur desto gewisser und öfter der arglistigen Verführung in die Hände liefert –, ist kein bewährteres Mittel, als die Geschichte der Weisheit und der Torheit, der Meinungen und der Leidenschaften, der Wahrheit und des Betrugs, in den Jahrbüchern des menschlichen Geschlechts auszuforschen. In diesen getreuen Spiegeln erblicken wir Menschen, Sitten und Zeiten, entblößt von allem demjenigen, was unser Urteil zu verfälschen pflegt, wenn wir selbst in das verwickelte Gewebe des gegenwärtigen Schauspiels eingeflochten sind. Oder, wofern auch Einfalt oder List, Leidenschaften oder Vorurteile geschäftig gewesen sind uns zu hintergehen: so ist nichts leichter, als den falsch gefärbten Duft wegzuwischen, womit sie die wahre Farbe der Gegenstände überzogen haben.

Die echtesten Quellen der Geschichte der menschlichen Torheiten sind die Schriften derjenigen, welche die eifrigsten Beförderer dieser Torheiten waren. Der Mißbrauch, den sie von der Bedeutung der Wörter machen, betrügt unser Urteil nicht: sie mögen immerhin widersinnige Dinge mit der gelassensten Ernsthaftigkeit erzählen, selbst noch so stark davon überzeugt sein, oder überzeugt zu sein scheinen; dies hindert uns nicht, lächerlich zu finden was den allgemeinen Menschenverstand zum Toren machen will. Immerhin mag ein von sich selbst betrogener Schwärmer die Natur der sittlichen Dinge verkehren wollen, und lasterhafte, ungerechte, unmenschliche Handlungen löblich, heroisch, göttlich nennen, rechtmäßige und unschuldige hingegen mit den verhaßtesten Namen belegen: nach Verfluß einiger Jahrhunderte kostet es keine Mühe, durch den magischen Nebel, der den Schwärmer blendete, hindurch zu sehen. Kon-Fu-Tsee könnte ihm ein Betrüger, und Lao-Kiun ein weiser Mann heißen: sein Urteil würde die Natur der Sache, und die Eindrücke, welche sie auf eine unbefangene Seele machen muß, nicht ändern; der Charakter und die Handlungen dieser Männer würden uns belehren, was wir von ihnen zu halten hätten.

Aus diesem Grund empfehlen uns die ehrwürdigen Lehrer unsrer Nation die Geschichte der ältern Zeiten als die beste Schule der Sittenlehre und der Staatsklugheit, als die lauterste Quelle dieser erhabenen Philosophie, welche ihre Schüler weise und unabhängig macht, und, indem sie das was die menschlichen Dinge scheinen von dem was sie sind, ihren eingebildeten Wert von dem wirklichen, ihr Verhältnis gegen das allgemeine Beste von ihrer Beziehung auf den besondern Eigennutz der Leidenschaften, unterscheiden lehrt, uns ein untrügliches Mittel wider Selbstbetrug und Ansteckung mit fremder Torheit darbietet; einer Philosophie, in welcher niemand ohne Nachteil ganz ein Fremdling sein kann, aber welche, in vorzüglichem Verstande, die Wissenschaft der Könige ist.

Überzeugt von dieser Wahrheit widmen Sie, Bester der Könige, einen Teil der Stunden, welche die unmittelbare Ausübung Ihres verehrungswürdigen Amtes Ihnen übrig läßt, der nützlichen und ergetzenden Beschäftigung, Sich mit den Merkwürdigkeiten der vergangenen Zeiten bekannt zu machen, die Veränderungen der Staaten in den Menschen, die Menschen in ihren Handlungen, die Handlungen in den Meinungen und Leidenschaften, und in dem Zusammenhang aller dieser Ursachen den Grund des Glückes und des Elendes der menschlichen Gattung zu erforschen.

Irre ich nicht, so ist die Geschichte der Könige von Scheschian, welche ich hier zu Ihrer Majestät Füßen lege, nicht ganz unwürdig, unter die ernsthaften Ergetzungen aufgenommen zu werden, bei welchen Ihr niemals untätiger Geist von der Ermüdung höherer Geschäfte auszuruhen pflegt. Große, dem ganzen Menschengeschlecht angelegene Wahrheiten, merkwürdige Zeitpunkte, lehrreiche Beispiele, und eine getreue Abschilderung der Irrungen und Ausschweifungen des menschlichen Verstandes und Herzens, scheinen mir diese Geschichte vor vielen andern ihrer Art auszuzeichnen, und ihr den Titel zu verdienen, womit das hohe Ober-Polizei-Gericht von Sina sie beehrt hat; eines Spiegels, worin sich die natürlichen Folgen der Weisheit und der Torheit in einem so starken Lichte, mit so deutlichen Zügen und mit so warmen Farben darstellen, daß derjenige in einem seltenen Grade weise und gut – oder töricht und verdorben sein müßte, der durch den Gebrauch desselben nicht weiser und besser sollte werden können.

Hingerissen von der Begierde, den Augenblick von Dasein, den uns die Natur auf diesem Schauplatze bewilliget, wenigstens mit einem Merkmale meines guten Willens für meine Nebengeschöpfe zu bezeichnen, hab ich mich der Arbeit unterzogen, dieses merkwürdige Stück alter Geschichte aus der indischen Sprache in die unsrige überzutragen; und in dieses Bewußtsein einer redlichen Gesinnung eingehüllt, überlaß ich dieses Buch und mich selbst dem Schicksale, dessen Unvermeidlichkeit mehr Tröstendes als Schreckendes für den Weisen hat; ruhig unter dem Schutz eines Königs, der die Wahrheit liebt und die Tugend ehrt, glücklich durch die Freundschaft der Besten unter meinen Zeitgenossen, und so gleichgültig, als es ein Sterblicher sein kann, gegen – – –1

 

Einleitung

 

Alle Welt kennt den berühmten Sultan von Indien, Schach-Riar, der, aus einer wunderlichen Eifersucht über die Negern seines Hofes, alle Nächte eine Gemahlin nahm, und alle Morgen eine erdrosseln ließ; und der so gern Märchen erzählen hörte, daß ihm in tausend und einer Nacht kein einziges Mal einfiel, die unerschöpfliche Scheherezade durch irgend eine Ausrufung, Frage oder Liebkosung zu unterbrechen, so viele Gelegenheit sie ihm auch dazu zu geben beflissen war.

Ein so unüberwindliches Phlegma war nicht die Tugend oder der Fehler seines Enkels Schach-Baham, der (wie jedermann weiß) durch die weisen und scharfsinnigen Anmerkungen, womit er die Erzählungen seiner Visire zu würzen pflegte, ungleich berühmter in der Geschichte geworden ist, als sein erlauchter Großvater durch sein Stillschweigen und seine Untätigkeit. Schach-Riar gab seinen Höflingen Ursache, eine große Meinung von demjenigen zu fassen, was er hätte sagen können, wenn er nicht geschwiegen hätte; aber sein Enkel hinterließ den Ruhm, daß es unmöglich sei, und ewig unmöglich bleiben werde, solche Anmerkungen oder Reflexionen (wie er sie zu nennen geruhte) zu machen wie Schach-Baham.

Wir haben uns alle Mühe gegeben die Ursache zu entdecken, warum die Schriftsteller, denen wir das Leben und die Taten dieser beiden Sultanen zu danken haben, von Schach-Riars Sohne, dem Vater Schach-Bahams, mit keinem Wort Erwähnung tun: aber wir sind nicht so glücklich gewesen einen andern Grund davon ausfündig zu machen, als – weil sich in der Tat nichts von ihm sagen ließ. Der einzige Chronikschreiber, der seiner gedenkt, läßt sich also vernehmen: »Sultan Lolo«, sagt er, »vegetierte einundsechzig Jahre. Er aß täglich viermal mit bewundernswürdigem Appetit, und außer diesem, und einer sehr zärtlichen Liebe zu seinen Katzen, hat man niemals einige besondere Neigung zu etwas an ihm wahrnehmen können. Die Derwischen und die Katzen sind die einzigen Geschöpfe in der Welt, welche Ursache haben, sein Andenken zu segnen. Denn er ließ, ohne jemals recht zu wissen warum, zwölfhundertundsechsunddreißig neue Derwischereien, jede zu sechzig Mann, in seinen Staaten erbauen; machte in allen größern Städten des indostanischen Reiches Stiftungen, worin eine gewisse Anzahl Katzen verpflegt werden mußte; und sorgte für diese und jene so gut, daß man in ganz Asien keine fettern Derwischen und Katzen sieht, als die von seiner Stiftung.2 Er zeugte übrigens zwischen Wachen und Schlaf einen Sohn, der ihm unter dem Namen Schach-Baham in der Regierung folgte, und starb an einer Unverdaulichkeit.« So weit dieser Chronikschreiber, der einzige, der von Sultan Lolo Meldung tut; und, in der Tat, wir besorgen, was er von ihm sagt, ist noch schlimmer als gar nichts.

Sein Sohn Schach-Baham hatte das Glück bis in sein vierzehntes Jahr von einer Amme erzogen zu werden, deren Mutter eben dieses ehrenvolle Amt bei der unnachahmlichen Scheherezade verwaltet hatte. Alle Umstände mußten sich vereinigen, diesen Prinzen zum unmäßigsten Liebhaber von Märchen, den man je gekannt hat, zu machen. Nicht genug, daß ihm der Geschmack daran mit der ersten Nahrung eingeflößt, und der Grund seiner Erziehung mit den weltberühmten Märchen seiner Großmutter gelegt wurde: das Schicksal sorgte auch dafür, ihm einen Hofmeister zu geben, der sich in den Kopf gesetzt hatte, daß die ganze Weisheit der Ägypter, Chaldäer und Griechen in Märchen eingewickelt liege.

Es herrschte damals die löbliche Gewohnheit in Indien, sich einzubilden, der Sohn eines Sultans, Rajas, Omras, oder irgend eines andern ehrlichen Mannes von Ansehen und Vermögen, könne von niemand als von einem Fakir erzogen werden. Wo man einen jungen Menschen von Geburt erblickte, durfte man sicher darauf rechnen, daß ihm ein Fakir an der Seite hing, der auf alle seine Schritte, Reden, Mienen und Gebärden Acht haben, und sorgfältig verhüten mußte, daß der junge Herr nicht – zu vernünftig werde. Denn es war eine durchgängig angenommene Meinung, daß einer starken Leibesbeschaffenheit, einer guten Verdauung, und der Fähigkeit sein Glück zu machen, nichts so nachteilig sei, als viel denken und viel wissen; und man muß es den Derwischen, Fakirn, Santonen, Braminen, Bonzen und Talapoinen der damaligen Zeiten nachrühmen, daß sie kein Mittel unversucht ließen, die Völker um den Indus und Ganges vor einem so schädlichen Übermaße zu bewahren. Es war einer von ihren Grundsätzen, gegen die es gefährlich war Zweifel zu erregen: Niemand müsse klüger sein wollen als seine Großmutter.

Man wird nun begreifen, wie Schach-Baham bei solchen Umständen ungefähr der Mann werden mußte, der er war.