Er warf sich zum erklärten Feinde aller Freuden und Vergnügungen des Lebens auf. Ohne den natürlichen und weisen Gebrauch derselben von dem sich selbst strafenden Mißbrauche zu unterscheiden, schilderte er die Wollust und die Freude als verderbliche Sirenen ab, die den armen Wanderer durch die Süßigkeit ihrer Stimme herbei locken, um ihm das Mark aus den Beinen zu saugen, das Fleisch von den Knochen zu nagen, und, wenn sie nichts mehr an ihm finden, den Rest den Maden zur Speise hinzuwerfen. Er beschrieb die Liebe zum Vergnügen als eine unersättliche Leidenschaft. ›Hoffen, daß man sie werde in Schranken halten können‹, sagte er, ›das wäre eben so weise, als wenn einer eine Hyäne auf seinem Schoß erziehen wollte, in Hoffnung sie zahm und gutartig zu machen.‹ Unter diesem Vorwande befahl er alle sinnliche Neigungen auszurotten. Sogar die Vergnügungen der Einbildungskraft hießen ihm gefährliche Fallstricke, und die verfeinerte Wollust des Herzens und der Sinne ein künstlich zubereitetes Gift, dessen Verfertiger mit ewigen Flammen bestraft zu werden verdienten. Diese unbesonnene Sittenlehre, die Frucht seiner verdorbenen Säfte, seines ausgetrockneten Gehirns, und des immer währenden Grams in welchem seine düstre Seele wohnte, predigte er so lange, bemühte sich so sehr sie durch tausend sophistische Schlüsse sich selbst wahr zu machen, bis er es endlich so weit brachte, sich völlig davon überzeugt zu glauben. Itzt bildete er sich ein, daß es lauter Menschenliebe sei, was ihn anfeure, alle Leute zu eben so unglückseligen Geschöpfen machen zu wollen, als er selbst war; und nachdem seine Krankheit ihre höchste Stufe erreicht hatte, endigte er damit, die Zerrüttung seiner Empfindungswerkzeuge und Begriffe dem höchsten Wesen selbst beizulegen, und den Schöpfer des Guten, dessen durch das Unermeßliche ausgebreitete Kraft Leben und Wonne ist, als einen grämischen Dämon abzuschildern, den die Freude seiner Geschöpfe beleidigt, und dessen Zorn nur Enthaltung von allem Vergnügen, nur Seufzer, Tränen und freiwillige Martern besänftigen können.
Es ließen sich noch viele merkwürdige Dinge von den Folgen dieser menschenfeindlichen Sittenlehre sagen, und von dem sinnreichen Gebrauche, welchen die Derwischen, Fakirn, Talapoinen, Bonzen und Lamas in allen Teilen von Asien und Indien davon zu machen gewußt haben. Aber ich würde doch am Ende nur Dinge sagen, die dem Sultan meinem Herrn und der ganzen Welt längst bekannt sind (wiewohl ohne daß die Welt sich dadurch besser zu befinden scheint) und ›es gibt eine Zeit anzufangen, und eine Zeit aufzuhören‹, sagt der weise Zoroaster.«
Schach-Gebal war (wir wissen nicht warum) mit der Erzählung des Philosophen Danischmend, besonders mit dem Ende derselben, so wohl zufrieden, daß er sogleich Befehl gab, ihm fünfhundert Bahamd'or aus seinem Schatze auszuzahlen. »Sobald«, setzte er hinzu, »die Stelle eines Oberaufsehers über die Derwischen und Bonzen ledig wird, soll sie kein andrer haben als Danischmend!«
Nicht von ungefähr, sondern weil der Sultan von Nurmahal voraus berichtet worden war, daß die Derwischen beim Schlusse der Erzählung des Doktors übel wegkommen würden, hatte der oberste Iman des Hofes Befehl erhalten, sich diese Nacht beim Schlafengehen des Sultans einzufinden. Seine Majestät ergetzten Sich nicht wenig an dem Verdrusse, welchen der Iman, wie Sie glaubten, über die Verwandlung des Emirs in einen Derwischen empfinden würde. Aber vermutlich eben darum, weil der Iman, ohne daß er darum schlauer als andre war, merken mußte, warum er die Ehre hätte da zu sein, beobachtete er sich selbst so genau, daß ihm nicht das geringste Zeichen von Verdruß entwischte. Indessen konnt er sich doch nicht erwehren die Anmerkung zu machen: Wofern es auch (woran er doch billig zweifle) ein solches Völkchen in der Welt gäbe, wie diese so genannten Kinder der Natur, so glaube er doch, daß man besser tun würde, die Nachrichten davon entweder gänzlich zu unterdrücken, oder wenigstens nicht unter das Volk kommen zu lassen.
»Und aus was für Ursachen, wenn man Euer Ehrwürden bitten darf?« fragte der Sultan.
»Ich erstrecke diese meine Meinung«, versetzte der Iman, »auf alle diese Schilderungen von – ich weiß nicht was für idealischen Menschen, die man unter dem angeblichen Zepter der Natur ein sorgenfreies, aus lauter Wollust und angenehmen Empfindungen zusammen gewebtes Leben zubringen läßt. Je unschuldiger und liebenswürdiger man ihre Sitten vorstellt, desto schädlicher ist der Eindruck, den solche Erdichtungen auf den größten Haufen machen werden. Aufrichtig zu reden« (fuhr er in einem sanft schleichenden Tone fort, der ausdrücklich für seine wohl meinende Miene gemacht war) »ich kann nicht absehen, was für einen Nutzen man davon erwartet; oder wie man sich selbst verbergen kann, daß sie zu nichts anderm dienen können, als einen Geist der Weichlichkeit in die Welt auszugießen, der die Bürger des Staats von allen mühsamen Anstrengungen und beschwerlichen Unternehmungen abschreckt, und (indem er das Verlangen allgemein macht, auch so glücklich zu sein als diese angeblichen Günstlinge der Natur, deren wollüstige Moral man uns für Weisheit gibt) zuwege zu bringen, daß sich endlich niemand mehr willig finden wird, das Feld zu bauen, harte Handarbeiten zu verrichten, und sein Leben zur See oder gegen die Feinde des Staats zu wagen. Überhaupt erfordert die Vervollkommnung eines jeden Zweiges des politischen Wohlstandes Leute, die keine Arbeit scheuen, und die mit hartnäckig anhaltendem Fleiße, dessen keine weichliche Seele fähig ist,12 sich in die Wette beeifern, es in einer gewissen Art von nützlichen Beschäftigungen zur Vollkommemheit zu bringen. Ist es wohl jemals zu erwarten, daß ein wollüstiger Kaufmann reich, ein wollüstiger Künstler geschickt, oder ein wollüstiger Gelehrter groß werden könne? Wird diese Anmerkung nicht wenigstens ganz gewiß von den meisten gelten? Oder sollen wir etwann glauben, ein wollüstiger Richter werde sein Amt desto pünktlicher und gewissenhafter verwalten, oder ein weichlicher Feldherr aus dem Schoße der Üppigkeit desto tapferer hervorgehen, die Beschwerlichkeiten eines Feldzuges desto besser ausdauern, und die Feinde des Sultans unsers Herrn desto schneller und gewisser zu seinen Füßen legen? – Sie sehen, Herr Danischmend, daß ich mich der Waffen begeben kann, welche mir mein eigener Stand gegen Sie an die Hand geben könnte.«
Während daß der Iman diese schöne Rede hielt, sang der Sultan im Tone der langen Weile und mit halb geschloßnen Augen, »la Faridondäne la Faridondon, Dondäne Dondon Dondäne, Dondäne Dondäne Dondon« – denn er wußte sich etwas damit, stark in Gassenhauern zu sein. »Nun, Doktor«, rief er, da der Iman fertig war, »laß hören, was du diesen Gründen entgegen zu setzen hast.«
»Ich werde«, versetzte Danischmend, »mit Ihrer Majestät Erlaubnis weiter nichts tun, als kürzlich zeigen, daß die Gründe des Imans erstens zuviel, zweitens zuwenig, und drittens gar nichts beweisen. Zu viel; denn alle seine Vorwürfe treffen die Natur selbst eben so stark als die Schilderungen oder Erdichtungen, die ihm so gefährlich scheinen. Die Grundsätze des weisen Psammis, die allgemeinen Wahrnehmungen und Erfahrungen, auf welche seine Sittenlehre gebaut ist, sind keine Erdichtungen. Wenn der Zustand, worein seine Gesetzgebung die Einwohner der glücklichen Täler setzte, unter allen möglichen der Menschheit am angemessensten, wenn er derjenige ist, worin sie am wenigsten leidet, am wenigsten Böses tut, die Wohltaten der Natur am wenigsten mißbraucht, und am Ende ihres Laufes sich am wenigsten gereuen läßt gelebt zu haben, – wer kann dafür, oder wer hat ein Recht etwas dawider einzuwenden? Sind die angenehmen Empfindungen, die uns die Natur von allen Seiten anbietet, etwa bloße Schaugerichte? Sind es bloße Versuchungen, die uns in einer verdienstlichen Enthaltung üben sollen? Wenn dies ihre Absicht gewesen ist, so muß man gestehen, daß die Natur wunderliche Grillen hat. Kann man uns übel nehmen, wenn wir geneigter sind diejenigen, welche sie zur Törin machen wollen, für grillenhafte Leute anzusehen? Oder was sollen wir sagen, wenn wir diese sonderbaren Sterblichen, die das Vergnügen in ganzem Ernste für einen Fallstrick ihrer Tugend halten, zu Schlachtopfern ihrer peinvollen Bemühung – die Hälfte ihres Wesens zu zerstören – werden sehen? Werden sie mit ihrer verdorbenen Galle, mit ihrer Schwermut, mit ihrer ängstlichen Furcht alle Augenblicke einen Mißtritt zu tun, kurz mit allen den Gespenstern, womit eine verwundete Einbildungskraft sich umgeben sieht, geschickter sein, ihre eigene Vollkommenheit und das Beste der Gesellschaft zu befördern? Euer Ehrwürden, welche Sich in der Lage befinden, ein Tafelgenosse des Sultans von Indien zu sein, über die innerlichen Angelegenheiten von fünf oder sechs der schönsten Damen in Dely die Aufsicht zu führen, und alle Monate hundert Bahamd'or in Ihren Beutel fallen zu lassen, welche zu erschwingen hundert arme Landleute sich zu Gerippen arbeiten und hungern müssen, – stellen Sich vielleicht den Zustand eines armen Schelms, der von Brotkrumen und Zisternenwasser lebt, und, damit die Schönheit seine Sinne nicht verführen könne, sich die Augen an der Sonne ausgebrannt hat, nicht ganz so unbehaglich vor als ich schwören wollte, daß er sein muß.« –
»Bravo, Danischmend!« sagte der Sultan, mit halber Stimme, und einem aufmunternden Winke, der dem Iman nicht entging.
»Ich sage also« (fuhr der Doktor fort) »wenn die Absicht der Natur nicht gewesen ist, uns durch schöne und ergetzende Gegenstände in Fallen zu locken: so beweisen die Gründe des Imans zu viel. Denn die reizendsten Schilderungen können unmöglich auch nur die Hälfte der Wirkung hervorbringen, welche die besagten Gegenstände selbst tun. Hatte hingegen die Natur wohl gemeinte Absichten, welche nur durch Leichtsinn, falschen Geschmack, oder verderbte Grundsätze von den meisten vereitelt werden: so ist es löblich und nützlich, sie durch solche Schilderungen, wie diejenigen, die dem Iman zu mißfallen das Unglück haben, auf den Pfad der Natur zurück zu führen, und zu einem weisen Genuß ihrer Wohltaten einzuladen.
Zweitens beweisen seine Gründe zu wenig. Denn wenn auch die ganze Welt mit Gemälden von glücklichen Inseln und glücklichen Menschen angefüllt würde, so sind zehen an eines zu setzen, daß die Leidenschaften, welche zu allen Zeiten die Beweger der sittlichen Welt waren, ihr Spiel nichts desto weniger fortspielen werden. Die Begierde nach einem glücklichen Leben wird, in jedem Staate der auf die Ungleichheit gegründet ist, die Begierde nach Reichtum, und der Reichtum die Begierde nach Ansehen, Größe und willkürlicher Gewalt hervorbringen. Diese Leidenschaften werden, je nachdem die Grundverfassung, oder die zufällige Beschaffenheit der Staatsverwaltung, sie mehr oder weniger begünstiget, eine Menge Talente ausbrüten; und das Verlangen nach dem angenehmsten Genusse des Lebens, von welchem der Iman eine allgemeine Untätigkeit besorgt, wird gerade das Gegenteil wirken; es wird uns emsige Leute, Erfinder, Verbesserer, Virtuosen und Helden geben so viel und vielleicht mehr als wir vonnöten haben. Die idealischen Schilderungen der Wollüste der Sinne, der Einbildungskraft und des Herzens werden also, vermöge der Natur der Sache, den großen Zweck mächtig befördern helfen, der Sr. Ehrwürden so sehr am Herzen liegt. Man wird sich, wie ich gar nicht zweifle, so lange man sich an solchen Gemälden ergetzt, in diese glücklichen Inseln, Schäferwelten, oder wie man sie nennen will, hinein wünschen, wo das angenehmste Leben so wenig kostet: aber man wird des Wünschens bald überdrüssig sein; und – ohne zu hoffen, daß man unversehens einen schönen Muschelwagen mit sechs geflügelten Einhörnern vor seiner Türe finden werde, um den Wünscher in die idealischen Welten überzuführen – wird man sich gefallen lassen, diejenigen Mittel zum glücklich leben anzuwenden, die in unsrer Gewalt sind, und in die Verfassung der Welt eingreifen, worin wir uns befinden. Die Schlüsse des Imans beweisen also zu viel und zu wenig, und folglich – gar nichts, welches das dritte war, was ich zeigen wollte.
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