Worum handelt es sich denn bei Ihrer Geschichte?«
»Es ist eine ganz eigene Sache. Sie kennen mich ja: Ich halte auf der Straße immer die Augen offen, und im Lauf der Jahre bin ich schon ein paar seltsamen Figuren und seltsamen Vorfällen begegnet, aber das hier, glaube ich, schlägt alles. Ich kam vor etwa einem Vierteljahr aus einem Restaurant, an einem bitterkalten Winterabend – ich hatte ein herrliches Essen und eine gute Flasche Chianti hinter mir, und ich blieb einen Augenblick lang auf dem Gehsteig stehen und dachte daran, welch ein Geheimnis um die Straßen Londons ist und um die Menschen, die durch sie hindurchgehen. Eine Flasche Rotwein ermuntert solche Phantasien, Clarke, und ich hätte wohl eine Seite in kleinem Druck zusammengebracht, aber ein Bettler unterbrach mich, der auf einmal hinter mir stand, mit den üblichen Worten. Natürlich drehte ich mich um, und es stellte sich heraus, daß dieser Bettler das war, was von einem alten Freund von mir noch übriggeblieben war – einem Mann namens Herbert. Ich fragte ihn, was ihn in ein solches Elend gebracht hätte, und er erzählte mir’s. Wir gingen eine von diesen langen dunklen Straßen in Soho hinauf und hinunter, und dort hörte ich seine Geschichte. Er sagte, er hätte ein wunderschönes Mädchen geheiratet, ein paar Jahre jünger als er, und diese Frau hätte ihn, wie er es ausdrückte, an Leib und Seele verderbt. Er wollte mir keine Einzelheiten sagen. Er sagte, er wage es nicht; das, was er gesehen hätte, würde ihn Tag und Nacht verfolgen, und als ich ihm ins Gesicht sah, wußte ich, daß er die Wahrheit sprach. Es war etwas an ihm, das mich erschauern ließ. Ich weiß nicht, weshalb, aber es war da. Ich gab ihm ein wenig Geld und schickte ihn weg, und ich versichere Ihnen: als er gegangen war, rang ich nach Atem. Seine Gegenwart ließ einem das Blut erkalten.«
»Ist das nicht alles ein wenig übertrieben, Villiers? Ich nehme an, der arme Teufel hat sich unklug verheiratet und ist, um es grob zu sagen, vor die Hunde gegangen.«
»Passen Sie auf, was nun kommt.« Villiers erzählte die Geschichte, die er von Austin gehört hatte.
»Sie sehen also«, schloß er, »es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Mr. Nobody – wer das nun auch war – am blanken Schrecken gestorben ist. Er sah etwas so Furchtbares, so Entsetzenerregendes, daß es sein Leben beendete. Und was er sah, das sah er jedenfalls in diesem Haus, das auf irgendeine Weise in der Nachbarschaft einen üblen Ruf bekommen hatte. Ich war so neugierig, hinzugehen und mir die Örtlichkeit genauer anzuschauen. Es ist eine ziemlich deprimierende Straße – die Häuser sind alt genug, um schäbig und düster auszusehen, aber nicht alt genug für den Reiz des Altmodischen. Soweit ich sehen konnte, sind die meisten in kleine Mietwohnungen aufgeteilt, möbliert und unmöbliert, und fast jede Tür hat drei Klingeln. Da und dort ist das Erdgeschoß in ein Ladenlokal der billigsten Sorte umgewandelt – eine in jeder Hinsicht trübselige Straße. Ich entdeckte, daß Nummer 20 zu vermieten war, und ging zum Makler und holte den Schlüssel. Natürlich hätte ich ansonsten dort nichts von den Herberts gehört, aber ich fragte den Mann frank und frei, wie lange es her sei, daß sie ausgezogen waren, und ob es inzwischen andere Mieter gegeben hätte. Er schaute mich ein Weilchen seltsam an und sagte dann, die Herberts seien unmittelbar nach der unangenehmen Sache weggezogen, wie er es nannte, und seitdem hätte das Haus leergestanden.«
Mr. Villiers hielt einen Augenblick inne.
»Ich habe mir schon immer gerne leerstehende Häuser angesehen; es liegt eine Art Faszination über den öden leeren Räumen, wo die Nägel in den Wänden stecken und der Staub dick auf der Fensterbank liegt. Aber durch Paul Street Nummer 20 zu gehen, war kein Vergnügen. Ich hatte kaum den Fuß in den Flur gesetzt, als ich an der Luft im Hause eine seltsame Schwere wahrnahm. Natürlich sind alle leeren Häuser muffig und so weiter, aber dies war ein ganz anderes Gefühl; ich kann es Ihnen nicht beschreiben, aber es schien einem den Atem abzuschnüren. Ich ging in das vordere und hintere Zimmer und in die Küche unten – sie waren alle recht schmutzig und staubig, wie man es erwarten würde, aber an allen war etwas Merkwürdiges. Definieren könnte ich es nicht, ich weiß nur, ich kam mir ganz eigenartig vor.
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