Äußerlich konnte man sie nicht unterscheiden, weil alle gleich rüstig und forstmäßig aussahen, und Heinrich betrachtete sie mit Wohlgefallen und gestand sich, daß diese sporenklirrenden Beamten in ihren Jagdtrachten sich keck und malerisch ausnähmen im Gegensatz zu den nüchternen und friedlichen Würdeträgern in den Dörfern seines Vaterlandes. Die Männer sprachen viel von Büchsen und Kugeln, und er schrieb ihnen deswegen auch einen gehörigen Verstand zu, von seiner Heimat her gewohnt, denselben meistens bei guten Schützen und wehrhaften Leuten zu finden. Über diesen Betrachtungen hatte er achtlos den Kopf bedeckt, um sich das Anlegen seines Mantels, das Bezahlen seiner Zeche und dergleichen bequemer zu machen, und näherte sich schon der Türe, als einer der Herren vor ihn hintrat und ihm die Mütze vom Kopfe nahm mit den Worten »Wenn Sie nicht wissen, mein Herr, was hierzulande Sitte ist, so ist man genötigt, es Ihnen deutlich zu zeigen!« – Heinrich sah ganz verblüfft auf den Redner, dann auf die großen Bierkrüge und in der braunen Stube umher; seine Augen glitten aber ab von den höhnischen Gesichtern, auf welche sie trafen und die darauf hinwiesen, daß diese Szene das Resultat einer förmlichen, vorhergehenden Beratung war; denn alle Genossen des Angreifers standen im Kreise um ihn herum. Jetzt erst wurde er feuerrot und stammelte zornig »Wie können Sie sich unterstehen –«, dabei hob er seine Mütze vom Boden auf, drehte sie krampfhaft zusammen und hatte nicht übel Lust, den Mann damit ins Gesicht zu schlagen. Zugleich riefen verschiedene Stimmen »Sein Sie ruhig, oder man wird Sie hinauswerfen!«

»Ich ersuche Sie, das bleibenzulassen, meine Herren!« sagte der Graf, welcher hereinkommend alles mit angesehen hatte, mit entschiedener Stimme und trat neben Heinrich. »Wenn hier jemand«, fuhr er fort, »keine Lebensart besitzt, so ist es jedenfalls nicht dieser junge Mann, und insbesondere verwahre ich mich dagegen, daß es deutscher Sitte gemäß sei, einen harmlosen Reisenden durch Tätlichkeiten zu belehren!«

Die Anwesenden hatten sich schon stillschweigend zurückgezogen, und der dicke Wirt, welcher vorhin keine Miene gemacht hatte, den Fremden in seinem Hause zu beschützen, war in angstvoller Verlegenheit. Nur der Anführer der Beamtengesellschaft erwiderte mit unsicherer Stimme »Wenn wir von einem Fremden die gebührliche Achtung verlangen, so geschieht es in Rücksicht auf des Königs Majestät, dessen Stellvertreter wir sind.«

»Es liegt schwerlich im Wunsche des Königs, daß seine Beamten sich hinter den Bierkrug lagern, um darüber zu wachen, daß jeder Reisende im Lande den Hut abzieht!« Damit faßte der Graf seinen Schützling unter den Arm und ging mit ihm hinaus.

Die Beamten liefen in großer Verwirrung in der Stube umher und ergriffen stumm und grimmig ihre Krüge; sie schämten sich nicht voreinander, sondern vor den Wirtsleuten, welche Zeugen ihrer Demütigung gewesen waren. Nur einer sagte »Das war wieder einmal Wasser auf seine Mühle, da konnte er seine merkwürdigen Launen wieder auslassen! Schade, daß er mit seinem Spleen nicht in England zu Hause ist!«

»Ich glaube, er würde noch lieber nach Amerika gehören«, versetzte ein anderer mit pfiffigem Ausdruck. –

In dem alten Wagen, als derselbe auf der Landstraße dahinfuhr, saßen die beiden Neubekannten anfangs schweigend und verstimmt. Heinrich aus guten Gründen; denn die leiseste Berührung einer fremden männlichen Hand in feindlicher Absicht jagt das Blut immer in eine heftige Wallung und hat schon oft genug Mord und Totschlag zur Folge gehabt; sein Begleiter hingegen mochte etwas ärgerlich darüber sein, daß er in so kurzer Zeit einen unscheinbaren Fremden wiederholt gegen die Ungezogenheit der eigenen Umgebung hatte schützen müssen, wozu noch die Ungewißheit kam, ob diese in Beziehung auf den innern Wert des Schützlings wohl auch notwendig sei? Wie um sich hierin zu versichern, eröffnete er endlich das Gespräch, indem er Heinrich nach seinem Herkommen befragte. Als dieser erwiderte, daß er Schweizer sei und zum ersten Mal in Deutschland reise, versetzte der Graf »Und sind Sie überrascht durch die vorige Tölpelei, oder finden Sie irgendeine vorgefaßte Meinung bestätigt?«

»Ich soll eigentlich nicht überrascht sein, wenn ich bedenke, daß jedes Volk seine eigenen Sitten hat, welche kennenzulernen der Fremde wohltut. Ich erinnere mich jetzt wirklich, daß in meiner Heimat dem Reisenden ähnliche Unannehmlichkeiten widerfahren, indem dort das Landvolk, wenn es von Begegnenden nicht gegrüßt oder sein Gruß nicht erwidert wird, dem Fehlenden Schimpf und Spott nachsendet. Dabei herrscht eine so genaue Etikette, daß der Ankommende oder Vorübergehende denjenigen, der an einer Stelle sitzt oder steht, zuerst begrüßen muß, wenn er nicht ausgescholten werden will.«

»Da scheint mir aber doch eine schönere Sitte allgemeiner Freundlichkeit und Zutraulichkeit zugrunde zu liegen, als die tolle Respektwut unserer Honoratioren ist. Oder ist es vielleicht die gleiche moralische Triebfeder, indem Ihr Landvolk sich als republikanischer Souverän respektiert wissen will?«

»Durchaus nicht! Das Volk bei uns hat nicht nötig, sich seine Bedeutung durch solche Dinge zu vergegenwärtigen; es atmet seine Lebensluft, ohne daran zu denken; der Herzschlag seines politischen Lebens gehört ebensowohl zu den unwillkürlichen Bewegungen als derjenige seines physischen Körpers. Auch sind Leute, welche eine absolute persönliche Nichtsnutzigkeit und Hohlheit fortwährend durch ihren überkommenen Anteil an der bürgerlichen Souveränetät übertünchen wollen, nicht besonders angesehen. So mag es kommen, daß das Volk auf den Straßen den Postzug eines durchreisenden gekrönten Hauptes mit kindlicher Verwunderung begafft und, wenn es etwas recht Großes und Reiches bezeichnen will, die Worte König und königlich so wohl anwendet wie alle übrige Welt, oft mit solcher Naivetät, daß der geschulte Demokrat sich darob ärgern mag.«

»Wenn Sie hierin noch die glückliche Stimmung Ihres Volkes teilen, werden Sie sich also nicht unbequem fühlen während Ihres Aufenthaltes in einer Monarchie?«

»Solange ich die Gewißheit habe, zurückzukehren, sobald ich will, wohl nicht. Indessen muß ich Ihnen gestehen, mein Herr, daß doch schon eine sonderbare Stimmung anfängt, sich meiner zu bemächtigen, und der heutige Auftritt machte dieselbe nur klarer. Es ist mir zu Mute, wie wenn irgendeiner zarten und bisher unberührten Saite meines Innern plötzlich Gewalt angetan wäre; jeder Stein, jeder Baum scheint hier einen Stempel zu tragen, noch neben dem der Gottheit und der Natur. Jedes Postschild scheint mir zuzurufen Du mußt dich auch zeichnen lassen wie ich, hier ist alles das erste und letzte Eigentum eines einzelnen Menschen! Und je weniger das Wort in Wirklichkeit wahr ist, besonders in einer gesetzlich eingerichteten Monarchie, desto mehr kommt es mir als ein unwürdiger Spaß, als ein blauer Dunst vor, den man sich mit ernsthaftem Gesicht vormacht; je weniger ich, wenn ich recht tue, nach jemandem zu fragen habe, desto lästiger ist es mir, wenn ich mich doch so anstellen soll, vor einer Namenschiffer den Hut abzuziehen und den Nachbar dabei zu versichern, daß dies mein höchster Ernst sei. Eigentlich regieren überall doch diejenigen, welche die nötige Einsicht und Überlegenheit im Guten wie im Bösen dazu haben; manchmal ist es der Fürst, manchmal der letzte Hirtensohn seines Reiches, zuletzt fast immer die öffentliche Meinung oder die Mehrheit, und angesichts dieser Tatsache wird wohl nur darum die Republik in der weiten Welt fast unmöglich, weil sie von ihren Verkündigern anstatt zur Sache der kühlen Vernunft und Lebenspraxis zur Sache des Gefühls, zum religiösen Ideal gemacht wird, welches wieder der Heuchelei, der Schwärmerei und einem politischen Pfaffentum Tür und Tor öffnet.«

»Ei, Sie sprechen ja wie ein Buch, junger Freund! Sie sind wohl ein eifriger Politiker?«

»Das gerade nicht mehr, als nötig ist! Ich habe aber als ein Buchrepublikaner darüber nachgedacht, daß mein Volk so wenig Aufhebens macht mit seiner Republik, während es sich wahrhaft und nicht vorübergehend unglücklich fühlte, wenn es, durch irgendeine Übermacht bezwungen, auch von dem besten Fürsten zu besitzen und zu regieren versucht würde. Und je mehr sich dieses Volk von uns, die wir Bücher lesen und den weltgeschichtlichen Begriff der Republik kennen, unterscheidet, desto liebenswürdiger ist es in seiner Duldsamkeit gegen Andersgläubige, gegen monarchische Untertanen, denen es nicht das brutale car tel est notre plaisir entgegenzuschreien braucht, welches der bornierte Royalist hervorkehrt, wenn er über seine Anhänglichkeit an eine Dynastie, von der er in seinem Leben noch keinen kleinen Finger gesehen hat, keine Rechenschaft weiter geben kann. Ich für mich aber kann mir bereits vorstellen, wie es einem ist, der in der Türkei reist, dem Drehtanze eines Derwisches zusehen und sich wohl hüten muß, den Mund zu verziehen.«

»Auf dieses wenig schmeichelhafte Gleichnis«, sagte der Graf lächelnd, »kann ich Ihnen entgegnen, daß ein Royalist vielleicht in ähnlicher Lage ist auf einer Reise durch die Schweiz und daß demselben die dortigen Zustände sehr barbarisch, zufällig und roh vorkommen dürften!«

»Dagegen«, erwiderte Heinrich ebenfalls lachend, »könnte ich nur das alte Sprichwort halten, welches am Ende der besprochenen Toleranz meiner gemeinen Landsleute zugrunde liegt über den Geschmack ist nicht zu streiten!«

»Da haben Sie ganz recht«, sagte Heinrichs Begleiter und gab ihm die Hand, »auch ich bin vielleicht am wenigsten im Fall, mit Ihnen zu streiten. Und was führt Sie denn, wenn ich fragen darf, nach unserm monarchischen Deutschland? Dem Anscheine nach sind Sie entweder Student oder ein junger Künstler?«

»Beides zusammen, wenn Sie wollen! letzteres im engern Sinne, ersteres überhaupt, insofern ich mir in der Mitte meines großen Stammvolkes selbst seine geistigen Errungenschaften aneignen und diejenigen allgemeinen Grundlagen und Anschauungen erwerben möchte, welche nur bei großen Sprachgenossenschaften zu finden sind und ohne welche es der einzelne zu nichts Ganzem und Höherm bringen kann.«

»Wie, eure schweizerische Nationalität genügt euch also doch nicht für den Hausgebrauch in allen Dingen? Sie gibt euch keine Ideen für ein höheres Bedürfnis?«

»Jedes Ding hat zwei Seiten, mein Herr! und, wie ich glaube, auch die Nationalität, oder was man so nennen mag. Man kann ein sehr guter Hausvater, ein anhänglicher, pflichtgetreuer Sohn sein und doch das entsprechende Gebiet für verschiedene Bedürfnisse und Fähigkeiten außer dem Hause suchen und finden. Und wie die Familie die sicherste, trostreichste Zuflucht ist nach jeder Abschweifung und Irrfahrt, so ist das Vaterland, wenn seine Grenzen einen natürlichen Zusammenhang haben und wenn es zudem noch den sichern Schoß eines aufgeweckten und vergnüglichen bürgerlichen Lebens bildet, der erste und letzte Zufluchtsort für alle seine besseren Kinder, und je ungleicher diese sich an Stamm und Sprache manchmal sind, desto fester ziehen sie sich, nach gewissen Gesetzen, gegenseitig an, freundlich zusammengehalten durch ein gemeinsam durchgekämpftes Schicksal und durch die erworbene Einsicht, daß sie zusammen so, wie und wo sie nun sich eingerichtet haben, am glücklichsten sind. Eine solche Lage ist die unsrige. Um einen uralten Kern hat sich nach und nach eine mannigfaltige Genossenschaft angesetzt, welche die Überlieferungen desselben, soweit sie in ihrer Bedeutung noch lebendig sind, mit aufnahm und sich bestrebt, sie fortwährend in gangbare Münze umzusetzen. Ähnliche Neigungen in der durchweg ähnlichen, schönen Landschaft, eine Menge nachbarlicher Berührungen bei der gemeinsamen Zähigkeit, den Boden unabhängig zu erhalten, haben ein von jedem andern Nationalleben unterschiedenes Bundesleben hervorgebracht, welches allen seinen Teilnehmern wieder einen gleichmäßigen Charakter bis in die feineren Schattierungen der Sitten und Sinnesart verliehen hat. Und je mehr wir uns in diesem Zustande geborgen glauben vor der Verwirrung, die uns überall umgibt, je mehr wir die träumerische Ohnmacht der altersgrauen großen Nationalerinnerungen, welche sich auf Sprache und Farbe der Haare stützen, rings um uns zu erkennen glauben, desto hartnäckiger halten wir an unserm schweizerischen Sinne fest. So kann man wohl sagen, nicht die Nationalität gibt uns Ideen, sondern eine unsichtbare, in diesen Bergen schwebende Idee hat sich diese eigentümliche Nationalität zu ihrer Verkörperung geschaffen.«

»Ich kann mich nun«, versetzte der Graf, »allerdings schon leichter in dieses sonderbare Nationalgefühl hineindenken, muß aber um so eher darauf bestehen, daß die Schweizer folgerechterweise auch einer ebenso eigentümlichen, aus ihren Verhältnissen erwachsenden Geisteskultur bedürfen sollten!«

»Das ist eben die andere Seite! Es gibt zwar viele meiner Landsleute, welche an eine schweizerische Kunst und Literatur, ja sogar an eine schweizerische Wissenschaft glauben.