Es war eines jener schönen alten Frauenantlize, die so selten sind. Ruhige sanfte Farben waren auf ihm, und jedes der unzähligen kleinen Fältchen war eine Güte und eine Freundlichkeit. Um alle diese Fältchen waren hier noch die unendlich vielen andern einer schneeweißen gekrauseten Haube. Auf jeder der Wangen saß ein kleines, feines Flekchen Roth.
»Schau, bist du schon da, Victor,« sagte sie, »ich habe auf die Milch wieder vergessen, daß ich sie warm gehalten hätte. Es steht wohl alles an dem Feuer, aber dasselbe wird ausgegangen sein. Warte, ich will es wieder anblasen.«
»Ich bin nicht hungrig, Mutter,« sagte Victor; »denn ich habe bei Ferdinand, ehe ich fortging, zwei Schnitten Kaltes von dem gestrigen Abendmale, das noch da stand, gegessen.«
»Du mußt aber hungrig sein,« antwortete die Frau, »weil du schon bei vier Stunden in der Morgenluft und dann durch den feuchten Wald gegangen bist.«
»So weit ist es ja nicht über die Thurnwiese herüber.«
»Ja weil du immer läufst und meinst, die Füsse dauern ewig - aber sie dauern nicht ewig - und im Gehen merkst du auch die Müdigkeit nicht, aber wenn du eine Weile sitzest, dann schmerzen die Füsse.«
Sie sagte nichts weiter und ging in die Küche hinaus. Victor setzte sich indessen auf einen Stuhl nieder.
Als sie wieder hereingekommen war, sagte sie: »Bist du müde?«
»Nein,« antwortete er.
»Du wirst wohl müde sein - freilich müde - warte nur, warte ein wenig, es wird gleich alles warm sein.«
Victor antwortete nicht darauf, sondern tief niedergebückt gegen den Spiz, der mit ihm hereingegangen war, strich er mit der flachen Hand über die weichen langen Haare desselben, der sich ebenfalls liebkosend an dem Jünglinge aufgerichtet hatte und beständig in seine Augen schaute - er strich immer an der nehmlichen Stelle, und blikte auch immer auf diese nehmliche Stelle, als wäre eine recht schwere tiefe Bewegung in seinem Herzen.
Die alte Mutter sezte indessen ihr Geschäft fort. Sie war sehr fleißig. Wenn sie den Staub nicht erreichen konnte, so stellte sie sich auf die Spizen ihrer Zehen, um den unsauberen Gast fort zu bringen. Hiebei schonte und liebte sie die ältesten unbrauchbarsten Dinge. Da lag auf einem Schreine ein altes Kinderspielzeug, das schon lange nicht gebraucht worden war, und vielleicht nie mehr gebraucht werden wird - es war ein Pfeifchen mit einer hohlen Kugel, in der klappernde Dinge waren - sie wischte es rings um sauber ab, und legte es wieder hin.
»Aber warum erzählst du denn nichts?« sagte sie plötzlich, da sie das rings um herrschende Schweigen zu bemerken schien.
»Weil mich schon gar nichts mehr freut,« antwortete Victor.
Die Frau sagte kein Wort, kein einzig Wörtlein, auf diese Rede, sondern sie sezte ihr Abwischen fort, und ihr stetes Ausschlingen des Tuches beim offenen Fenster.
Nach einer Weile sagte sie: »Ich habe dir oben den Koffer und die Kisten schon hergerichtet. Da du gestern aus warest, habe ich den ganzen Tag damit verbracht. Die Kleider habe ich zusammengelegt, wie sie in den Koffer gethan werden müssen. Auch die Wäsche, welche ausgebessert ist, liegt dabei. Die Bücher mußt du schon selber besorgen, und eben so das, was du in das Ränzlein zu thun gedenkst. Ich habe dir einen weichen feinen Lederkoffer gekauft, wie du einmal gesagt hast, daß sie dir so gefallen. - Aber wo willst du denn hin, Victor?«
»Einpaken.«
»Mein Gott, Kind, du hast ja noch nicht gegessen. Warte nur ein Weilchen. Jetzt wird es wohl schon warm sein.«
Victor wartete. Sie ging hinaus und brachte zwei Töpfchen, eine Schale, eine Tasse und ein Stük Milchbrod auf einem runden, reinen messingberänderten Brette herein. Sie stellte alles nieder, schenkte ein, kostete, ob es gut und gehörig warm sei, und schob dann das Ganze vor den Jüngling hin, es dem Dufte der Dinge überlassend, ob er ihn anloken werde oder nicht. Und in der That: ihre Erfahrung täuschte sie nicht; denn der Jüngling, der Anfangs nur ein wenig zu kosten begann, sezte sich endlich wieder nieder, und aß mit all dem guten Behagen und Gedeihen, das so sehr der Jugend eigen ist.
Sie war indessen allgemach fertig geworden, und ihre Abwischtücher zusammenlegend, schaute sie zu Zeiten freundlich und lächelnd auf ihn hin. Als er endlich alles Hereingebrachte verzehrt hatte, gab sie dem Spiz noch die kleinen Ueberreste, die da waren, und trug dann das Geschirr wieder in die Küche hinaus, daß es von der Magd gereinigt werde, wenn sie nach Hause komme; denn dieselbe war auf den Kirchenplaz des Thales hinaus gegangen, um manche Bedürfnisse für den heutigen Tag einzukaufen.
Als sie wieder von der Küche herein gekommen war, stellte sich die Frau vor Victor hin, und sagte: »Jetzt hast du dich erquikt, und nun höre mich an. Wenn ich wirklich deine Mutter wäre, wie du mich immer nennst, so würde ich recht böse auf dich werden, Victor; denn siehe ich muß dir sagen, daß dein Wort groß Unrecht ist, welches du erst sagtest, daß dich nichts mehr freue. Du verstehst es jetzt nur noch nicht, wie unrecht es ist. Wenn es selbst etwas Trauriges wäre, das auf dich harrt, so solltest du ein solches Wort nicht sagen. Siehe mich an, Victor, ich bin jetzt bald siebenzig Jahre alt, und sage noch nicht, daß mich nichts mehr freue, weil einen alles, alles freuen muß, da die Welt so schön ist und noch immer schöner wird, je länger man lebt. Ich muß dir nur gestehen - und du wirst selber auf meine Erfahrung kommen, wenn du älter wirst - als ich achtzehn Jahre alt war, sagte ich auch alle Augenblicke, mich freut nichts mehr - ich sagte es nehmlich, wenn mir diejenige Freude versagt wurde, die ich mir gerade einbildete. Dann wünschte ich alle Zeit weg, welche mich noch von einer künftigen Freude trennte, und bedachte nicht, welch ein kostbares Gut die Zeit ist. Wenn man älter wird, lernt man die Dinge und Weile, welche auch noch immer kürzer wird, erst recht schäzen.
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