Er war sehr groß, sehr schlank, mit einer langen Nase, die wie ein Schnabel zwischen den nahe beieinanderliegenden scharfen grauen Augen hervorragte, die hell hinter einer goldgefaßten Brille funkelten. Er war seinem Beruf entsprechend, aber ziemlich unordentlich gekleidet, denn sein Gehrock war schmutzig und seine Hose abgetragen. Trotz der Jugend war sein langer Rücken schon gebeugt, und er ging mit vorgestrecktem Kopf, was den Eindruck neugierigen Wohlwollens hervorrief. Als er eintrat, fiel sein Blick auf den Stock in Holmes’ Hand; er stürzte sich mit einem freudigen Ausruf darauf.

»Da bin ich aber froh«, sagte er. »Ich war nicht sicher, ob ich ihn hier oder bei der Schiffahrtsgesellschaft gelassen hatte. Ich möchte um nichts in der Welt diesen Stock verlieren.«

»Ein Geschenk, wie ich sehe«, sagte Holmes.

»Ja, Sir.«

»Vom Charing Cross Hospital?«

»Von einem oder zwei Freunden dort anläßlich meiner Hochzeit.«

»O weh, o weh, das ist aber schlecht«, sagte Holmes und schüttelte den Kopf.

Dr. Mortimer blinzelte in milder Verwunderung hinter seinen Brillengläsern hervor.

»Warum sollte das schlecht sein?«

»Nur weil Sie unsere netten Deduktionen zunichte gemacht haben. Ihre Hochzeit, sagen Sie?«

»Ja, Sir. Ich habe geheiratet und deshalb das Krankenhaus und damit auch jede Aussicht auf eine Konsultationspraxis verlassen. Ich mußte eben meinen eigenen Hausstand gründen.«

»So, so, wir haben uns also doch nicht vollkommen geirrt«, lächelte Holmes. »Und nun, Dr. James Mortimer …«

»Mister, Sir, Mister – ein schlichtes Mitglied des Royal College of Surgeons. M.R.C.S.«

»Und anscheinend ein Mann von exaktem Wissen.«

»Ein Amateurwissenschaftler, Mr. Holmes, ein Mann, der Muscheln am Strand des weiten, unbekannten Ozeans aufhebt. Ich nehme doch an, daß ich mit Mr. Sherlock Holmes spreche und nicht mit …?«

»Nein – dies hier ist mein Freund Dr. Watson.«

»Nett, Sie kennenzulernen, Sir. Ich habe Ihren Namen im Zusammenhang mit dem Ihres Freundes gehört. Sie interessieren mich sehr, Mr. Holmes. Ich hätte kaum eine so ausgesprochene Langschädelformation und so stark entwickelte Jochbogen bei Ihnen erwartet. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mit dem Finger Ihre Scheitelnaht entlangfahre? Ein Abguß Ihres Schädels, Sir, wäre, solange nicht das Original zur Verfügung steht, die Zierde jedes anthropologischen Museums. Plumpe Schmeichelei ist nicht meine Absicht, aber ich gestehe, daß ich auf Ihren Schädel Lust bekomme.«

Mit einer Handbewegung lud Sherlock Holmes unseren seltsamen Besucher zum Sitzen ein.

»Sie sind offenbar in Ihrer Sparte ein ebensolcher Enthusiast wie ich in meiner«, sagte er. »Ich sehe an Ihrem Zeigefinger, daß Sie Ihre Zigaretten selbst drehen. Lassen Sie sich nicht davon abhalten, eine anzuzünden.«

Der Mann zog Papier und Tabak hervor und drehte mit überraschender Fingerfertigkeit eine Zigarette. Seine langen, behenden Finger waren beweglich und rastlos wie die Fühler eines Insekts.

Holmes schwieg, aber seine schnellen, forschenden Blicke zeigten mir sein Interesse an unserem sonderbaren Besucher.

»Ich nehme an, Sir«, begann er endlich, »daß Sie mir nicht die Ehre erweisen, mich gestern abend und heute früh erneut aufzusuchen, nur um meinen Schädel zu betrachten?«

»Nein, Sir, nein – obwohl ich mich auch freue, daß ich es bei dieser Gelegenheit tun konnte. Ich bin zu Ihnen gekommen, Mr. Holmes, weil ich mir bewußt bin, kein Mann der Praxis zu sein, und weil ich plötzlich vor einem sehr ernsten und außergewöhnlichen Problem stehe. Da ich davon überzeugt bin, daß Sie der zweitbeste Experte Europas sind …«

»So? Darf ich fragen, wer die Ehre hat, der beste zu sein?« erkundigte sich Holmes ziemlich gereizt.

»Einen Mann mit pedantisch genauem wissenschaftlichem Geist wird wohl die Arbeit von Monsieur Bertillon3 immer sehr beeindrucken.«

»Sollten Sie dann nicht besser ihn befragen?«

»Ich habe von pedantisch genauem wissenschaftlichem Geist gesprochen, Sir. Aber als praktisch denkender Mann der Tatsachen stehen Sie nach allgemeiner Ansicht unerreicht da.