Das kann einfach Unaufmerksamkeit bedeuten, oder es weist darauf hin, daß er beim Aufkleben in Aufregung oder in Eile war. Im großen und ganzen neige ich zu letzterer Auffassung, da es offensichtlich um eine wichtige Sache geht. Es ist unwahrscheinlich, daß jemand bei der Abfassung eines solchen Briefes nachlässig wäre. War er aber in Eile, so sind wir damit bei der interessanten Frage, warum er in Eile war. Jeder Brief, der bis zum frühen Morgen zur Post gegeben worden wäre, hätte Sir Henry erreicht, bevor er das Hotel verließ. Hatte der Absender Angst, bei seiner Arbeit gestört zu werden — und vom wem?«
»Wir geraten jetzt aber in das Gebiet der Mutmaßungen«, sagte Dr. Mortimer.
»Sagen Sie lieber: In das Gebiet, wo wir die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abwägen und uns für die wahrscheinlichste entscheiden müssen. Wir stellen unsere Phantasie in den Dienst der Wissenschaft, aber wir haben immer Tatsachenmaterial als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen, so daß wir uns nicht in Spekulationen verlieren. Nun, Sie können es zweifellos ein Ratespiel nennen, aber ich bin fast sicher, daß diese Adresse in einem Hotel geschrieben worden ist.«
»Woher wollen Sie das nun wieder wissen?«
»Wenn Sie sich die Schrift genau ansehen, werden Sie bemerken, daß der Schreiber mit Feder und Tinte seine Schwierigkeiten hatte. Zweimal hat die Feder in einem einzigen Wort gekleckst, dreimal mußte er sie beim Schreiben der kurzen Adresse wieder ins Tintenfaß eintauchen, ein Zeichen, daß sehr wenig Tinte darin war. Nun, in einem Privathaus wird sich das Schreibzeug selten in einem so traurigen Zustand befinden, und daß gleichzeitig die Feder gespalten und das Tintenfaß leer ist, wird nur sehr selten vorkommen. Aber Sie kennen ja die Schreibutensilien in Hotels - dort findet man für gewöhnlich nichts anderes. Ja, ich habe kaum Zweifel, wenn wir die Papierkörbe der Hotels in der Nähe von Charing Cross durchsuchen würden, fänden wir auch die Reste des zerschnittenen >Times<-Artikels. Dann könnten wir auch sehr schnell die Person fassen, von der dieser merkwürdige Brief kommt. Hallo, Hallo! Was ist das?«
Er war dabei, sorgfältig den Briefbogen zu untersuchen, auf den die Nachricht geklebt war, und hielt ihn zu diesem Zweck dicht vor die Augen.
»Nun?«
»Nichts«, sagte er und warf ihn hin. »Es ist ein leeres Blatt Papier und hat nicht einmal ein Wasserzeichen. Ich glaube, wir haben aus diesem merkwürdigen Brief alles an Informationen herausgeholt, was überhaupt möglich ist. Und nun, Sir Henry, ist Ihnen sonst noch irgend etwas Merkwürdiges begegnet, seit Sie in London sind?«
»Nein, Mr. Holmes, nicht daß ich wüßte.«
»Sie haben nicht bemerkt, daß jemand Ihnen gefolgt ist oder Sie beobachtet hat?«
»Es sieht ja so aus, als sei ich geradewegs in einen Groschenroman hineingeraten«, sagte unser Besucher. »Warum zum Donnerwetter sollte mir jemand folgen oder mich beobachten?«
»Darauf kommen wir noch. Sie haben uns also nichts zu berichten, bevor wir uns mit der Sache selbst beschäftigen?«
»Nun, es kommt darauf an, was Sie für berichtenswert halten.«
»Ich meine, alles ist berichtenswert, was vom normalen Gang des Lebens und der Alltagsroutine abweicht.«
Sir Henry lächelte.
»Ich kenne noch nicht viel vom englischen Alltag und Lebensstil, denn ich habe fast mein ganzes Leben in den Vereinigten Staaten und in Kanada verbracht. Aber ich hoffe, es ist hier nichts Alltägliches, daß man einen seiner Stiefel verliert.«
»Sie haben einen Ihrer Stiefel verloren?«
»Mein lieber Sir«, rief Dr. Mortimer, »Sie haben ihn sicher verlegt. Sie werden ihn wiederfinden, wenn Sie ins Hotel zurückkehren. Was sollen wir Mr. Holmes mit Kleinigkeiten dieser Art behelligen?«
»Nun, er fragte doch nach etwas, was von der Alltagsroutine abweicht.«
»Ganz recht«, sagte Holmes, »und mag der Vorfall auch noch so albern sein. Sie haben also einen Ihrer Stiefel verloren, sagten Sie?«
»Nun, vielleicht auch verlegt. Ich habe beide Stiefel gestern abend vor die Tür gestellt, und heute morgen war nur noch einer da. Aus dem Burschen, der sie geputzt hat, war nichts herauszukriegen. Am meisten hat mich geärgert, daß ich das Paar erst gestern abend in einem Geschäft am >Strand< gekauft habe und ich sie noch nicht einmal angehabt habe.«
»Wenn Sie die Stiefel noch nie getragen haben, warum haben Sie sie dann zum Putzen vor die Tür gestellt?«
»Es waren bräunliche Stiefel aus empfindlichem Leder, die noch nicht eingefettet waren.
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