Havisham erlebte überhaupt viel Erstaunliches. Er
hatte sein ganzes Leben in England zugebracht, und amerikanische Sitten
und Menschen waren ihm vollkommen fremd. Seit beinahe vierzig Jahren
stand er in Geschäftsverbindung mit der Familie des Grafen
Dorincourt, kannte alle Verhältnisse und Besitztümer
des Hauses aus- und inwendig und empfand in seiner kühlen,
geschäftsmäßigen Weise ein gewisses
Interesse für den kleinen Jungen, der einst Herr und Gebieter
über alles sein sollte. Alle Enttäuschungen, welche
die älteren Söhne dem Vater bereitet, hatte er
miterlebt, hatte des Grafen Entrüstung über
Kapitän Cedriks Heirat mitangesehen und mußte, wie
der alte Herr die kleine Witwe haßte, und in welch bittern,
harten Worten er von ihr zusprechen pflegte. Sie war in seinen Augen
nun ein für allemal nichts als eine ungebildete Amerikanerin,
die seinen Sohn ins Netz gelockt, weil sie gewußt hatte, welch
einer Familie er angehörte, und Mr. Havisham teilte diese
Auffassung so ziemlich, denn er hatte ja im Leben genug
käufliche und berechnende Seelen kennen gelernt, und von den
Amerikanern hielt er ohnehin nicht viel. Als der Kutscher ihn nach
seiner Ankunft in die entlegene ärmliche Straße und
vor das elende kleine Haus gefahren hatte, war er ganz entsetzt
gewesen: daß der künftige Besitzer von
Schloß Dorincourt und Wyndham Towers und Chorlworth und all
den andern stattlichen Gütern hier geboren und groß
gewachsen sein sollte, verletzte auch sein Selbstgefühl.
Er war sehr gespannt, welcher Art Mutter und Kind sein
würden, und es bangte ihm vor der Begegnung: er war stolz auf
das vornehme alte Haus, dessen Angelegenheiten so lange schon die
seinigen waren, und es hätte ihn im Innersten peinlich
berührt, wenn er mit einer niedrig denkenden, geldgierigen
Frau zu thun bekommen hätte, die für ihres
verstorbenen Mannes Stellung und Ehre kein Gefühl gehabt.
Handelte es sich doch um einen alten Namen und um einen
glänzenden, für den Mr. Havisham sich trotz aller
Kühle und geschäftsmännischen
Nüchternheit einer gewissen Ehrfurcht nicht erwehren konnte.
Als Mary ihn in den kleinen Salon geführt hatte, warf
er einen kritischen Blick um sich. Die Einrichtung war einfach, aber
wohnlich; nirgends waren geschmacklose, billige Spielereien oder
Farbendrucke an den Wänden; der wenige Wandschmuck war
durchaus künstlerischer Art und eine Menge hübscher
Kleinigkeiten, die von weiblicher Hand herrührten, machten den
Raum behaglich.
»So weit nicht übel,« sagte der
alte Herr zu sich selbst, »da hat aber wohl des
Kapitäns Geschmack den Ausschlag gegeben.« Als jedoch
Mrs. Errol ins Zimmer trat, konnte er nicht umhin, zu denken,
daß möglicherweise auch der ihrige maßgebend
gewesen sein könnte. Wäre er nicht ein gar so
steifer, zurückhaltender Geschäftsmann gewesen, so
würde er vermutlich seine Ueberraschung bei ihrem Anblick
nicht verborgen haben; sie sah in dem schlichten schwarzen Gewande, das
sich eng um ihre zarte Gestalt schmiegte, weit eher wie ein junges
Mädchen, als wie die Mutter eines siebenjährigen
Jungen aus; ihr Gesichtchen war hübsch, und in den
großen braunen Augen lag ein Blick voll Unschuld und
Innigkeit, dabei aber auch von unsäglicher Traurigkeit, die
nicht mehr von ihr gewichen war, seit sie ihren Mann verloren. Cedrik
hatte sich ganz an die traurigen Augen gewöhnt, und zuweilen
sah er sie doch auch fröhlich aufleuchten, das war aber nur,
wenn er mit ihr spielte oder plauderte oder irgend etwas Altkluges
sagte oder eins von den langen Fremdwörtern gebrauchte, die er
bei Mr. Hobbs oder aus der Zeitung aufschnappte. Er gebrauchte gern so
lange Wörter und er freute sich auch, wenn seine Mama
darüber lachte, obwohl er nicht begriff, was sie daran komisch
fand, denn ihm war es voller Ernst damit. Der Anwalt hatte in seiner
langen Praxis Gesichter vom Blatt lesen gelernt und wußte auf
den ersten Blick, daß er und der Graf sich mit ihren
Voraussetzungen gründlich getäuscht hatten. Mr.
Havisham war nie verheiratet, ja nicht einmal verliebt gewesen, aber er
fühlte, das dies junge Geschöpf mit der
süßen Stimme und den traurigen Augen Kapitän
Errol geheiratet hatte, weil sie ihn mit aller Kraft ihrer Frauenseele
geliebt, und daß sie auch nicht ein einzigmal daran gedacht
hatte, wessen Sohn er sei. Und er wußte nun auch, daß
sie ihm keine Schwierigkeiten bereiten werde, und daß
möglicherweise dieser kleine Lord Fauntleroy seiner Familie
nicht so viel Kummer machen werde, als man erwartet hatte; der
Kapitän war ein hübscher Mann gewesen, die Mutter war
sehr hübsch, vielleicht war der Junge auch zum Ansehen.
Als er Mrs. Errol die Veranlassung seines Kommens
auseinandergesetzt hatte, ward sie leichenblaß.
»Ach,« sagte sie leise, »wird es
nötig sein, ihn von mir zu trennen? Wir hängen so
sehr aneinander! Er ist mein ganzes Glück, meine ganze Welt.
Ich habe immer mein Bestes gethan, ihm eine gute Mutter zu
sein!« Und die weiche junge Stimme zitterte, und
Thränen traten in ihre Augen. »Sie wissen nicht, was
das Kind mir gewesen ist,« setzte sie halblaut hinzu.
Der alte Herr räusperte sich.
»Es ist meine peinliche Pflicht, Ihnen zu sagen,
daß Graf Dorincourt Ihnen nicht – nicht freundlich
gesinnt ist. Der Graf ist alt und ein Mann von starken Vorurteilen;
Amerika und die Amerikaner sind ihm stets besonders zuwider gewesen,
weshalb ihn auch seines Sohnes Heirat so aufgebracht hat. Ich bedaure,
der Ueberbringer eines so unerfreulichen Auftrages zu sein, allein der
Graf ist entschlossen, Sie nicht zu sehen. Sein Wunsch ist, Lord
Fauntleroy unter seiner persönlichen Aufsicht erziehen zu
lassen, ihn bei sich zu haben; der Graf hängt sehr an
Schloß Dorincourt und bringt den größten
Teil des Jahres dort zu; er ist häufig schmerzhaften
Gichtanfällen unterworfen und liebt London gar nicht; Lord
Fauntleroy würde demzufolge also auch hauptsächlich
in Dorincourt zu bleiben haben. Ihnen bietet der Graf als Wohnung ein
Landhaus, Court Lodge, an, das in der Nähe von Dorincourt sehr
hübsch liegt, selbstverständlich mit entsprechendem
Jahreseinkommen. Lord Fauntleroy darf Sie besuchen, die einzige
Beschränkung ist, daß Sie ihn nicht besuchen, den
Park überhaupt nicht betreten: es wird also
thatsächlich keine Trennung von Ihrem Sohne sein, und ich
versichere Sie, gnädige Frau, daß diese Bedingungen
unter den einmal gegebenen Verhältnissen recht
günstig für Sie sind. Sie werden selbst einsehen,
daß es für Lord Fauntleroy von großer
Bedeutung ist, in solcher Umgebung aufzuwachsen und eine derartige
Erziehung zu genießen.«
Es war Mr. Havisham etwas unbehaglich zu Mute, da er eine
Szene oder wenigstens einen Thränenausbruch vorhersah und es
zum Peinlichsten für ihn gehörte, Frauen weinen zu
sehen. Nichts derart erfolgte; die junge Frau trat ans Fenster und sah
einige Augenblicke hinaus, um sich zu fassen und zu sammeln.
»Kapitän Errol hing sehr an
Dorincourt,« sprach sie endlich, »Er liebte sein
Vaterland und seine Heimat und es war ihm immer schmerzlich, daraus
verbannt zu sein.
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