Walters mit Zeichnungen, Notizen und Notenblättern bedeckten Schreibtisch, der den Glanz der Zukunft eines berühmten Mannes vorausstrahlte, und das schmale Büchergestell gegenüber, an dem Walter zuweilen im Eifer wie Sebastian am Pfahle stand, Lampenlicht auf dem schönen Haar, das Ulrich immer heimlich bewundert hatte. Nietzsche, Altenberg, Dostojewski oder wen immer sie gerade gelesen hatten, mußten sich bescheiden, auf der Erde oder dem Bett liegen zu bleiben, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden und der Strom des Gesprächs die kleinliche Störung, sie ordentlich zurückzustellen, nicht duldete. Die Überhebung der Jugend, der die größten Geister gerade gut genug sind, um sich ihrer nach Belieben zu bedienen, kam ihm in diesem Augenblick wunderlich hold vor. Er suchte sich an die Gespräche zu erinnern. Sie waren wie Traum, wenn man im Erwachen noch die letzten Gedanken des Schlafs erwischt. Und er dachte mit einem leichten Staunen: wenn wir damals Behauptungen aufstellten, so hatten sie auch noch einen anderen Zweck als den, richtig zu sein; eben den, uns zu behaupten! – So viel stärker war in der Jugend der Trieb, selbst zu leuchten, als der, im Lichte zu sehen; er fühlte die Erinnerung an dieses wie auf Strahlen schwebende Gefühl der Jugend als einen schmerzlichen Verlust.

Es kam Ulrich vor, daß er beim Beginn der Mannesjahre in ein allgemeines Abflauen geraten war, das trotz gelegentlicher, rasch sich beruhigender Wirbel zu einem immer lustloseren, wirren Pulsschlag verrann. Es ließ sich kaum sagen, worin diese Veränderung bestand. Gab es mit einemmal weniger bedeutende Männer? Keineswegs! Und überdies, es kommt auf sie gar nicht an; die Höhe einer Zeit hängt nicht von ihnen ab, zum Beispiel hat weder die Ungeistigkeit der Menschen der Sechziger- und Achtzigerjahre das Werden Hebbels und Nietzsches zu unterdrücken vermocht, noch einer von diesen die Ungeistigkeit seiner Zeitgenossen. Stockte das allgemeine Leben? Nein; es war mächtiger geworden! Gab es mehr lähmende Widersprüche als früher? Es konnte kaum mehr davon geben! Waren früher keine Verkehrtheiten begangen worden? In Mengen! Unter uns gesagt: Man warf sich für schwache Männer ins Zeug und ließ starke unbeachtet; es kam vor, daß Dummköpfe eine Führer- und große Begabungen eine Sonderlingsrolle spielten; der deutsche Mensch las unbekümmert um alle Geburtswehen, die er als dekadente und krankhafte Übertreibungen bezeichnete, seine Familienzeitschriften weiter und besuchte in unvergleichlich größeren Mengen die Glaspaläste und Künstlerhäuser als die Sezessionen; die Politik schon gar kehrte sich nicht im geringsten an die Anschauungen der neuen Männer und ihrer Zeitschriften, und die öffentlichen Einrichtungen blieben gegen das Neue wie von einem Pestkordon umzogen. – Könnte man nicht geradezu sagen, daß seither alles besser geworden sei? Menschen, die früher bloß an der Spitze kleiner Sekten gestanden haben, sind inzwischen alte Berühmtheiten geworden; Verleger und Kunsthändler reich; Neues wird immer weiter gegründet; alle Welt besucht sowohl die Glaspaläste wie die Sezessionen und die Sezessionen der Sezessionen; die Familienzeitschriften haben sich die Haare kurz schneiden lassen; die Staatsmänner zeigen sich gern in den Künsten der Kultur beschlagen, und die Zeitungen machen Literaturgeschichte. Was ist also abhanden gekommen?

Etwas Unwägbares. Ein Vorzeichen. Eine Illusion. Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne losläßt und sie wieder durcheinandergeraten. Wie wenn Fäden aus einem Knäuel herausfallen. Wie wenn ein Zug sich gelockert hat. Wie wenn ein Orchester falsch zu spielen anfängt. Es würden sich schlechterdings keine Einzelheiten haben nachweisen lassen, die nicht auch früher möglich gewesen wären, aber alle Verhältnisse hatten sich ein wenig verschoben. Vorstellungen, deren Geltung früher mager gewesen war, wurden dick. Personen ernteten Ruhm, die man früher nicht für voll genommen hätte. Schroffes milderte sich, Getrenntes lief wieder zusammen, Unabhängige zollten dem Beifall Zugeständnisse, der schon gebildete Geschmack erlitt von neuem Unsicherheiten. Die scharfen Grenzen hatten sich allenthalben verwischt, und irgendeine neue, nicht zu beschreibende Fähigkeit, sich zu versippen, hob neue Menschen und Vorstellungen empor. Die waren nicht schlecht, gewiß nicht; nein, es war nur ein wenig zu viel Schlechtes ins Gute gemengt, Irrtum in die Wahrheit, Anpassung in die Bedeutung. Es schien geradezu einen bevorzugten Prozentsatz dieser Mischung zu geben, der in der Welt am weitesten kam; eine kleine, eben ausreichende Beimengung von Surrogat, die das Genie erst genial und das Talent als Hoffnung erscheinen ließ, so wie ein gewisser Zusatz von Feigen- oder Zichorienkaffee nach Ansicht mancher Leute dem Kaffee erst die rechte gehaltvolle Kaffeehaftigkeit verleiht, und mit einemmal waren alle bevorzugten und wichtigen Stellungen des Geistes von solchen Menschen besetzt, und alle Entscheidungen fielen in ihrem Sinne. Man kann nichts dafür verantwortlich machen. Man kann auch nicht sagen, wie alles so geworden ist. Man kann weder gegen Personen noch gegen Ideen oder bestimmte Erscheinungen kämpfen. Es fehlt nicht an Begabung noch an gutem Willen, ja nicht einmal an Charakteren. Es fehlt bloß ebensogut an allem wie an nichts; es ist, als ob sich das Blut oder die Luft verändert hätte, eine geheimnisvolle Krankheit hat den kleinen Ansatz zu Genialem der früheren Zeit verzehrt, aber alles funkelt von Neuheit, und zum Schluß weiß man nicht mehr, ob wirklich die Welt schlechter geworden sei oder man selbst bloß älter. Dann ist endgültig eine neue Zeit gekommen.

So hatte sich also die Zeit geändert, wie ein Tag, der strahlend blau beginnt und sich sacht verschleiert, und hatte nicht die Freundlichkeit besessen, auf Ulrich zu warten.