Aber die »große Liebe«, das war für diese zwanzigjährigen Offiziere, wenn sie überhaupt Verlangen danach hatten, etwas anderes, das war ein Begriff; er lag außerhalb der Reichweite ihrer Unternehmungen und war so arm an Erfahrungsinhalt und eben darum auch so blendend leer, wie es nur ganz große Begriffe sind. Und als Ulrich zum erstenmal in seinem Leben die Möglichkeit in sich sah, diesen Begriff anzuwenden, mußte es darum auch geschehen; der Frau Major fiel hiebei keine andere Rolle zu wie die des letzten Anlasses, der einer Krankheit zum Ausbruch verhilft. Ulrich wurde liebeskrank. Und da echte Liebeskrankheit kein Verlangen nach Besitz ist, sondern ein sanftes Sichentschleiern der Welt, um deswillen man gern auf den Besitz der Geliebten verzichtet, erklärte der Leutnant der Frau Major die Welt auf eine so ungewohnte und ausdauernde Weise, wie sie es noch nicht gehört hatte. Gestirne, Bakterien, Balzac und Nietzsche wirbelten in einem Trichter von Gedanken, dessen Spitze sie mit wachsender Deutlichkeit auf gewisse, nach der damaligen Zeitmode dem Anstand verwehrte Unterschiede gerichtet fühlte, die ihren Leib von dem Leib des Leutnants trennten. Sie wurde verwirrt durch diese eindringliche Beziehung der Liebe zu Fragen, die ihres Dafürhaltens bis dahin noch nie mit Liebe zu tun gehabt hatten; auf einem Spazierritt überließ sie Ulrich, als sie neben ihren Pferden gingen, einen Augenblick ihre Hand und bemerkte mit Schrecken, daß die Hand wie ohnmächtig in der seinen liegen blieb. In der nächsten Sekunde flammte von ihren Handgelenken bis zu den Knien ein Feuer, und ein Blitz fällte die beiden Menschen, so daß sie fast auf den Wegrain gestürzt wären, in dessen Moos sie nun zu sitzen kamen, sich leidenschaftlich küßten und schließlich verlegen wurden, weil die Liebe so groß und ungewöhnlich war, daß ihnen zu ihrer Überraschung nichts anderes zu sprechen und tun einfiel, als man bei solchen Umarmungen gewöhnt ist. Die Pferde, die ungeduldig wurden, befreiten endlich die beiden Liebenden aus dieser Lage.
Die Liebe der Frau Major und des zu jungen Leutnants blieb auch in ihrem ganzen Ablauf kurz und unwirklich. Sie staunten beide, sie preßten sich noch einigemal aneinander, sie fühlten beide, daß etwas nicht in Ordnung sei und sie auch dann nicht bei ihren Umarmungen Leib an Leib kommen lassen würde, wenn sie sich aller Hindernisse der Kleidung und Sitte entledigten. Die Frau Major wollte sich einer Leidenschaft nicht verweigern, über die sie kein Urteil zu haben fühlte, aber heimlich pochten Vorwürfe in ihr, wegen ihres Gatten und des Altersunterschieds, und als ihr Ulrich mit dürftig erfundenen Begründungen eines Tages mitteilte, daß er einen langen Urlaub antreten müsse, atmete die Offiziersfrau unter ihren Tränen auf. Ulrich aber hatte damals schon keinen anderen Wunsch mehr, als vor lauter Liebe so rasch und weit wie möglich aus der Nähe des Ursprungs dieser Liebe zu kommen. Er reiste blindlings darauflos, bis eine Küste dem Schienenweg ein Ende machte, ließ sich noch von einem Boot auf die nächste Insel übersetzen, die er sah, und hier, an einem unbekannten Zufallsort blieb er, notdürftig behaust und verpflegt, und schrieb gleich in der ersten Nacht den ersten einer Reihe langer Briefe an die Geliebte, die er niemals absandte.
Diese nachtstillen Briefe, die sein Denken auch bei Tag erfüllten, hatte er später verloren; und das war wohl auch ihre Bestimmung. Er hatte anfangs darin noch viel von seiner Liebe und allerhand durch sie eingegebenen Gedanken geschrieben, aber bald wurde das immer mehr durch die Landschaft verdrängt. Die Sonne hob ihn morgens aus dem Schlaf, und wenn die Fischer auf dem Wasser, die Weiber und Kinder bei den Häusern waren, so schienen er und ein die Büsche und Steinrücken zwischen den beiden kleinen Ortschaften der Insel abweidender Esel die einzigen höheren Lebewesen zu sein, die es auf diesem abenteuerlich vorgeschobenen Stück Erde gab. Er tat es seinem Gefährten gleich und stieg auf einen der Steinriegel oder er legte sich am Inselrand zwischen die Gesellschaft von Meer, Fels und Himmel. Das ist nicht anmaßend gesagt, denn der Größenunterschied verlor sich, so wie sich übrigens auch der Unterschied zwischen Geist, tierischer und toter Natur in solchem Beisammensein verlor und jede Art Unterschied zwischen den Dingen geringer wurde. Um das ganz nüchtern auszudrücken, diese Unterschiede werden sich wohl weder verloren noch verringert haben, aber die Bedeutung fiel von ihnen ab, man war »keinen Scheidungen des Menschentums mehr untertan«, genau so wie es die von der Mystik der Liebe ergriffenen Gottgläubigen beschrieben haben, von denen der junge Reiterleutnant damals nicht das geringste wußte. Er dachte auch nicht über diese Erscheinungen nach – wie man sonst, einem Jäger auf der Wildspur gleich, einer Beobachtung nachspürt und hinter ihr dreindenkt –, ja er nahm sie wohl nicht einmal wahr, sondern er nahm sie in sich. Er versank in der Landschaft, obgleich das ebensogut ein unaussprechliches Getragenwerden war, und wenn die Welt seine Augen überschritt, so schlug ihr Sinn von innen an ihn in lautlosen Wellen. Er war ins Herz der Welt geraten; von ihm zu der weit entfernten Geliebten war es ebenso weit wie zum nächsten Baum; Ingefühl verband die Wesen ohne Raum, ähnlich wie im Traum zwei Wesen einander durchschreiten können, ohne sich zu vermischen, und änderte alle ihre Beziehungen. Der Zustand hatte aber sonst nichts mit Traum gemeinsam. Er war klar und übervoll von klaren Gedanken; bloß bewegte sich nichts in ihm nach Ursache, Zweck und körperlichem Begehren, sondern alles breitete sich in immer erneuten Kreisen aus, wie wenn ein Strahl ohne Ende in ein Wasserbecken fällt. Und eben das war es, was er auch in seinen Briefen beschrieb, und sonst nichts. Es war eine völlig veränderte Gestalt des Lebens; nicht in den Brennpunkt der gewöhnlichen Aufmerksamkeit gestellt, von der Schärfe befreit und so gesehen, eher ein wenig zerstreut und verschwommen war alles, was zu ihr gehörte; aber offenbar wurde es von anderen Zentren aus wieder mit zarter Sicherheit und Klarheit erfüllt. Denn alle Fragen und Vorkommnisse des Lebens nahmen eine unvergleichliche Milde, Weichheit und Ruhe an und zugleich eine gänzlich veränderte Bedeutung. Lief da zum Beispiel ein Käfer an der Hand des Denkenden vorbei, so war das nicht ein Näherkommen, Vorbeigehn und Entfernen, und es war nicht Käfer und Mensch, sondern es war ein unbeschreiblich das Herz rührendes Geschehen, ja nicht einmal ein Geschehen, sondern obgleich es geschah, ein Zustand. Und mit Hilfe solcher stillen Erfahrungen erhielt alles, was sonst das gewöhnliche Leben ausmacht, eine umstürzende Bedeutung, wo immer Ulrich damit zu tun bekam. Auch seine Liebe zu der Frau Major nahm in diesem Zustand rasch die ihr vorherbestimmte Gestalt an. Er suchte sich manchmal die Frau, an die er unablässig dachte, vorzustellen und sich einzubilden, was sie im gleichen Augenblick tun möge, worin er durch seine genaue Kenntnis ihrer Lebensumstände mächtig unterstützt wurde; aber sowie es gelang und er die Geliebte vor Augen sah, wurde sein so unendlich hellsichtig gewordenes Gefühl blind, und er mußte sich bemühen, ihr Bild rasch wieder auf die selige Gewißheit des Irgendwo-für-ihn-da-seins einer großen Geliebten zu ermäßigen. Es dauerte nicht lange, da war sie ganz zum unpersönlichen Kraftzentrum, zum versenkten Dynamo seiner Erleuchtungsanlage geworden, und er schrieb ihr einen letzten Brief, worin er ihr auseinandersetzte, daß das große Zu-Liebe-leben eigentlich gar nichts mit Besitz und dem Wunsche Seimein zu tun habe, die aus der Sphäre des Sparens, Aneignen und der Freßsucht stammten.
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