Und sie denken dann nur noch unklar an die Jugend, wo etwas wie eine Gegenkraft in ihnen gewesen ist. Diese andere Kraft zerrt und schwirrt, sie will nirgends bleiben und löst einen Sturm von ziellosen Fluchtbewegungen aus; der Spott der Jugend, ihre Auflehnung gegen das Bestehende, die Bereitschaft der Jugend zu allem, was heroisch ist, zu Selbstaufopferung und Verbrechen, ihr feuriger Ernst und ihre Unbeständigkeit, – alles das bedeutet nichts als ihre Fluchtbewegungen. Im Grunde drücken diese bloß aus, daß nichts von allem, was der junge Mensch unternimmt, aus dem Innern heraus notwendig und eindeutig erscheint, wenn sie es auch in der Weise ausdrücken, als ob alles, worauf er sich gerade stürzt, überaus unaufschiebbar und notwendig wäre. Irgend jemand erfindet einen schönen neuen Gestus, einen äußeren oder einen inneren – Wie übersetzt man das? Eine Lebensgebärde? Eine Form, in die das Innere strömt wie das Gas in einen Glasballon? Einen Ausdruck des Indrucks? Eine Technik des Seins? Es kann ein neuer Schnurrbart sein oder ein neuer Gedanke. Es ist Schauspielerei, aber hat wie alle Schauspielerei natürlich einen Sinn – und augenblicklich stürzen, wie die Spatzen von den Dächern, wenn man Futter streut, die jungen Seelen darauf zu. Man braucht es sich ja bloß vorzustellen: wenn außen eine schwere Welt auf Zunge, Händen und Augen liegt, der erkaltete Mond aus Erde, Häusern, Sitten, Bildern und Büchern, – und innen ist nichts wie ein haltlos beweglicher Nebel: welches Glück es bedeuten muß, sobald einer einen Ausdruck vormacht, in dem man sich selbst zu erkennen vermeint. Ist irgend etwas natürlicher, als daß jeder leidenschaftliche Mensch sich noch vor den gewöhnlichen Menschen dieser neuen Form bemächtigt?! Sie schenkt ihm den Augenblick des Seins, des Spannungsgleichgewichtes zwischen innen und außen, zwischen Zerpreßtwerden und Zerfliegen. Auf nichts anderem beruht – dachte Ulrich, und natürlich berührte ihn alles das auch persönlich; er hatte die Hände in den Taschen, und sein Gesicht sah so still und schlafend glücklich aus, als stürbe er in den Sonnenstrahlen, die hineinwirbelten, einen milden Erfrierungstod – auf nichts anderem, dachte er, beruht also auch die immerwährende Erscheinung, die man neue Generation, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode und Erneuerung nennt. Was diese Renoviersucht des Daseins zu einem Perpetuum mobile macht, ist nichts als das Ungemach, daß zwischen dem nebelhaften eigenen und dem schon zur fremden Schale erstarrten Ich der Vorgänger wieder nur ein Schein-Ich, eine ungefähr passende Gruppenseele eingeschoben wird. Und wenn man bloß ein bißchen achtgibt, kann man wohl immer in der soeben eingetroffenen letzten Zukunft schon die kommende Alte Zeit sehen. Die neuen Ideen sind dann bloß um dreißig Jahre älter, aber befriedigt und ein wenig fettüberpolstert oder überlebt, so ähnlich wie man neben den schimmernden Gesichtszügen eines Mädchens das erloschene Gesicht der Mutter erblickt; oder sie haben keinen Erfolg gehabt, sind abgezehrt und zu einem Reformvorschlag eingeschrumpft, den ein alter Narr verficht, der von seinen fünfzig Bewunderern der große Soundso genannt wird.
Er blieb nun wieder stehen, diesmal auf einem Platz, wo er einige Häuser erkannte und sich an die öffentlichen Kämpfe und geistigen Aufregungen erinnerte, die ihr Entstehen begleitet hatten. Er gedachte seiner Jugendfreunde; alle waren sie seine Jugendfreunde gewesen, ob er sie persönlich kannte oder nur dem Namen nach, ob sie so alt waren wie er oder älter, die Rebellen, die neue Dinge und Menschen auf die Welt bringen wollten, und ob das hier war oder über alle Orte verstreut, die er kennengelernt hatte. Jetzt standen diese Häuser wie brave Tanten mit altmodischen Hüten in dem Spätnachmittagslicht, das schon zu verblassen begann, ganz nett und belanglos und alles andere eher als aufregend. Es lockte, zu lächeln. Aber die Leute, die diese anspruchslos gewordenen Reste zurückgelassen hatten, waren inzwischen Professoren, Berühmtheiten und Namen, ein bekannter Teil der bekanntenfortschrittlichen Entwicklung geworden, sie waren auf einem mehr oder weniger kurzen Weg aus dem Nebel ins Erstarren gelangt, und deshalb wird die Geschichte von ihnen gelegentlich der Schilderung ihres Jahrhunderts einst melden: Anwesend waren…
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Direktor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes
IN DIESEM AUGENBLICK wurde Ulrich durch einen Bekannten unterbrochen, der ihn unversehens ansprach. Dieser Bekannte hatte am gleichen Tag in seiner Aktenmappe, als er sie morgens vor dem Verlassen der Wohnung öffnete, in einem abseitigen Fach, unangenehm überrascht, ein Rundschreiben des Grafen Leinsdorf entdeckt, das er schon des längeren zu beantworten vergessen hatte, weil sein gesunder Geschäftssinn vaterländischen Aktionen, die von hohen Kreisen ausgingen, abhold war. »Faule Sache« hatte er wohl seinerzeit zu sich gesagt; beileibe sollte es das nicht sein, was er darüber öffentlich gesagt haben wollte, aber da, wie Gedächtnisse schon einmal sind, hatte ihm das seine einen üblen Streich gespielt, indem es sich nach dem gefühlhaften ersten inoffiziellen Auftrag richtete und die Sache nachlässig fallen ließ, statt die überlegte Entscheidung abzuwarten. Und deshalb stand in der Zuschrift, als er sie wieder öffnete, etwas, das ihm äußerst peinlich war, obgleich er es früher gar nicht beachtet hatte; es war eigentlich nur ein Ausdruck, zwei kleine Worte waren es, die sich in dem Sendschreiben an den verschiedensten Stellen wiederfanden, aber dieses Wortpaar hatte den stattlichen Mann, mit seiner Mappe in der Hand, vor dem Fortgehn mehrere Minuten Unentschlossenheit gekostet, und es hieß: der wahre.
Direktor Fischel – denn so hieß er, Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank, eigentlich nur Prokurist mit dem Titel Direktor, – Ulrich durfte sich seinen jüngeren Freund aus früheren Zeiten nennen und war bei seinem letzten Aufenthalt mit seiner Tochter Gerda recht befreundet gewesen, hatte sie aber seit seiner Rückkehr nur ein einzigesmal besucht – Direktor Fischel kannte Se. Erlaucht als einen Mann, der sein Geld arbeiten ließ und mit den Methoden der Zeit Schritt hielt, ja er »erkannte ihn«, wie der Geschäftsausdruck lautet, in dem Augenblick, wo er die Eintragungen in seinem Gedächtnis prüfte, »für« einen Mann von großer Wichtigkeit, denn die Lloyd-Bank war eines jener Institute, durch die Graf Leinsdorf seine Börsenaufträge besorgen ließ. Leo Fischel konnte darum die Nachlässigkeit nicht begreifen, mit der er eine so bewegliche Einladung behandelt hatte, wie es die war, in der Se. Erlaucht einen auserlesenen Kreis von Menschen aufforderte, sich zu einem großen und gemeinsamen Werk bereit zu halten. Er selbst war eigentlich nur durch ganz besondere, später zu erwähnende Umstände in diesen Kreis einbezogen worden, und alles das war der Grund, warum er, Ulrichs kaum ansichtig geworden, sich auf ihn gestürzt hatte; er hatte erfahren, daß Ulrich mit der Sache, und noch dazu in »prominenter Weise«, zu tun habe, – was eine jener unbegreiflichen, aber nicht seltenen Gerüchtsbildungen war, die das Richtige treffen, ehe es noch richtig ist, – und setzte ihm nun wie ein Terzerol die drei Fragen vor die Brust, was er sich eigentlich unter »wahrer Vaterlandsliebe«, »wahrem Fortschritt« und »wahrem Osterreich« vorstelle?
Dieser, aus seiner Stimmung aufgeschreckt und doch diese fortsetzend, antwortete in der Art, wie er mit Fischel immer verkehrt hatte: »Das PDUG.«
»Das –?« Direktor Fischel buchstabierte es harmlos nach und dachte diesmal an keinen Scherz, denn solche Abkürzungen, obgleich sie damals noch nicht so zahlreich waren wie heute, kannte man von Kartellen und Spitzenverbänden, und sie strömten Vertrauen aus. Aber dann sagte er doch: »Machen Sie, bitte, keine Witze; ich bin in Eile und muß zu einer Sitzung.«
»Das Prinzip des unzureichenden Grundes!« wiederholte Ulrich. »Sie sind doch Philosoph und werden wissen, was man unter dem Prinzip des zureichenden Grundes versteht. Nur bei sich selbst macht der Mensch davon eine Ausnahme; in unserem wirklichen, ich meine damit unserem persönlichen Leben und in unserem öffentlich-geschichtlichen geschieht immer das, was eigentlich keinen rechten Grund hat.«
Leo Fischel schwankte, ob er widersprechen solle oder nicht; Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank philosophierte gern, es gibt noch solche Menschen in den praktischen Berufen, aber er war wirklich in Eile; darum erwiderte er: »Sie wollen mich nicht verstehn. Ich weiß, was Fortschritt ist, ich weiß was Österreich ist, und ich weiß wahrscheinlich auch, was Vaterlandsliebe ist. Aber vielleicht vermag ich mir, was wahre Vaterlandsliebe, wahres Österreich und wahrer Fortschritt ist, nicht ganz richtig vorzustellen. Und um das frage ich Sie!«
»Gut; wissen Sie, was ein Enzym oder was ein Katalysator ist?«
Leo Fischel hob nur abwehrend die Hand.
»Das trägt materiell nichts bei, aber es setzt die Geschehnisse in Gang. Sie müssen aus der Geschichte wissen, daß es den wahren Glauben, die wahre Sittlichkeit und die wahre Philosophie niemals gegeben hat; dennoch haben die Kriege, Gemeinheiten und Gehässigkeiten, die ihretwegen entfesselt worden sind, die Welt fruchtbar umgestaltet.«
»Ein andermal!« beteuerte Fischel und versuchte, den Aufrichtigen zu spielen. »Hören Sie einfach, ich habe damit an der Börse zu tun und möchte wirklich gerne die eigentlichen Absichten des Grafen Leinsdorf kennen; worauf hat er es mit diesem Zusatz »wahr« abgesehen?«
»Ich schwöre Ihnen,« erwiderte Ulrich ernst »daß weder ich noch irgend jemand weiß, was der, die, das Wahre ist; aber ich kann Ihnen versichern, daß es im Begriff steht, verwirklicht zu werden!«
»Sie sind ein Zyniker!« erklärte Direktor Fischel und eilte davon, war aber nach dem ersten Schritt noch einmal umgekehrt und hatte sich verbessert: »Ich habe erst unlängst zu Gerda gesagt, daß Sie einen großartigen Diplomaten hätten abgeben können.
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