Er besuchte sie, da er nichts anderes vorhatte, täglich zweimal, und in der Zwischenzeit weinte er oft vor Heimweh. Er schrieb einen Brief an Vater und Mutter und dankte ihnen für seine glückliche Kindheit. Ohne Not ging er nur selten aus. Kaum, daß er zu essen wagte; er fürchtete, sein Geld vor dem Ende des Monats auszugeben. Und immerfort mußte er nach der Tasche fassen, ob es noch da sei.
So verlassen ihm um das Herz war, ging er doch noch immer nicht mit dem Brief des Vaters in die Blücherstraße zu Herrn Göppel, dem Zellulosefabrikanten, der aus Netzig war und auch an Heßling lieferte. Am vierten Sonntag besiegte er seine Scheu — und kaum watschelte der gedrungene, gerötete Mann, den er schon so oft beim Vater im Kontor gesehen hatte, auf ihn zu, da wunderte Diederich sich schon, daß er nicht früher gekommen sei. Herr Göppel fragte gleich nach ganz Netzig und vor allem nach dem alten Buck. Denn obwohl sein Kinnbart nun auch ergraut war, hatte er doch, wie Diederich, nur, wie es schien, aus anderen Gründen, schon als Knabe den alten Buck verehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Einer von denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte, höher als gewisse Leute, die immer alles mit Blut und Eisen kurieren wollten und dafür der Nation riesige Rechnungen schrieben. Der alte Buck war schon Achtundvierzig dabeigewesen, er war sogar zum Tode verurteilt worden. »Ja, daß wir hier als freie Männer sitzen können«, sagte Herr Göppel, »das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck.« Und er öffnete noch eine Flasche Bier. »Heute sollen wir uns mit Kürassierstiefeln treten lassen...«
Herr Göppel bekannte sich als freisinnigen Gegner Bismarcks. Diederich bestätigte alles, was Göppel wollte; er hatte über den Kanzler, die Freiheit, den jungen Kaiser keinerlei Meinung. Da aber ward er peinlich berührt, denn ein junges Mädchen war eingetreten, das ihm auf den ersten Blick durch Schönheit und Eleganz gleich furchtbar erschien.
»Meine Tochter Agnes«, sagte Herr Göppel.
Diederich stand da, in seinem faltenreichen Gehrock, als magerer Kandidat, und war rosig überzogen. Das junge Mädchen gab ihm die Hand. Sie wollte wohl nett sein, aber was war mit ihr anzufangen. Diederich antwortete ja, als sie fragte, ob Berlin ihm gefalle; und als sie fragte, ob er schon im Theater gewesen sei, antwortete er nein. Er fühlte sich feucht vor Ungemütlichkeit und war fest überzeugt, sein Aufbruch sei das einzige, womit er das junge Mädchen interessieren könne. Aber wie war von hier fortzukommen? Zum Glück stellte ein anderer sich ein, ein breiter Mensch namens Mahlmann, der mit ungeheurer Stimme mecklenburgisch sprach, stud. ing. zu sein schien und bei Göppels Zimmerherr sein sollte. Er erinnerte Fräulein Agnes an einen Spaziergang, den sie verabredet hätten. Diederich ward aufgefordert, mitzukommen. Entsetzt schützte er einen Bekannten vor, der draußen auf ihn warte, und machte sich sofort davon. ›Gott sei Dank‹, dachte er, während es ihm einen Stich gab, ›sie hat schon einen.‹
Herr Göppel öffnete ihm im Dunkeln die Flurtür und fragte, ob sein Freund auch Berlin kenne. Diederich log, der Freund sei Berliner. »Denn wenn Sie es beide nicht kennen, kommen Sie noch in den falschen Omnibus. Sie haben sich gewiß schon mal verirrt in Berlin.« Und als Diederich es zugab, zeigte Herr Göppel sich befriedigt. »Das ist nicht wie in Netzig. Hier laufen Sie gleich halbe Tage.
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