Das Licht, das in sein Zimmer durch zwei Fenster und eine Balkontüre eindrang, brachte Karl immer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens aus seiner kleinen Schlaf- kammer hier eintrat. Wo hätte er wohl wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Einwanderer ans Land gestie- gen wäre? Ja vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach seiner Kenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für sehr wahrscheinlich hielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiter darum zu kümmern, daß er keine Hei- mat mehr hatte. Denn auf Mitleid durfe man hier nicht hoffen und es war ganz richtig, was Karl in dieser Hin- sicht über Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaf zu genießen.
Ein schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach hin. Was aber in der Heimatstadt Karls wohl der höchste Aussichtspunkt gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick über eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich ab- gehackter Häuser gerade und darum wie fliehend in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgen wie abend und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der von oben gesehn sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschli- chen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue vervielfältigte wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen er- hob, und alles dieses wurde erfaßt und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände zerstreut, fortgetragen und wie- der eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Stra- ße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraf zerschlagen.
Vorsichtig wie der Onkel in allem war, riet er Karl sich vorläufig ernsthaf nicht auf das Geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschauen, aber sich nicht gefangen nehmen lassen. Die ersten Tage eines Eu- ropäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar und wenn man sich hier auch, damit nur Karl keine unnötige Angst habe, rascher eingewöhne als wenn man vom Jenseits in die menschliche Welt eintrete, so müsse man sich doch vor Augen halten, daß das erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und daß man sich dadurch nicht vielleicht alle künfigen Urteile, mit deren Hilfe man ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen lassen dürfe. Er selbst habe Neuan- kömmlinge gekannt, die z. B. statt nach diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem Bal- kon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße heruntergesehen hätten. Das müsse unbedingt verwir- ren! Diese einsame Untätigkeit, die sich in einen arbeits- reichen Newyorker Tag verschaut, könne einem Ver- gnügungsreisenden gestattet und vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos angeraten werden, für einen der hier bleiben wird sei sie ein Verderben, man könne in diesem Fall ruhig dieses Wort anwenden, wenn es auch eine Übertreibung ist. Und tatsächlich verzog der Onkel im- mer ärgerlich das Gesicht, wenn er bei einem seiner Be- suche, die immer nur einmal täglich undzwar immer zu den verschiedensten Tageszeiten erfolgten, Karl auf dem Balkone antraf. Karl merkte das bald und versagte sich infolgedessen das Vergnügen, auf dem Balkon zu stehn, nach Möglichkeit.
Es war ja auch beiweitem nicht das einzige Vergnügen, das er hatte. In seinem Zimmer stand ein amerikanischer Schreibtisch bester Sorte, wie sich ihn sein Vater seit Jahren gewünscht und auf den verschiedensten Verstei- gerungen um einen ihm erreichbaren billigen Preis zu kaufen gesucht hatte, ohne daß es ihm bei seinen kleinen Mitteln jemals gelungen wäre. Natürlich war dieser Tisch mit jenen angeblich amerikanischen Schreibti- schen, wie sie sich auf europäischen Versteigerungen herumtreiben nicht zu vergleichen. Er hatte z. B. in sei- nem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe und selbst der Präsident der Union hätte für jeden seiner Akten einen passenden Platz gefunden, aber außerdem war an der Seite ein Regulator und man konnte durch Drehen an der Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz ein ganz anderes Aussehen und alles gieng je nachdem man die Kurbel drehte langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es war eine neueste Erfindung, erinnerte aber Karl sehr lebhaf an die Krippenspiele die zuhause auf dem Christmarkt den staunenden Kindern gezeigt wurden und auch Karl war of in seine Winterkleider eingepackt davor gestanden und hatte ununterbrochen die Kurbeldrehung, die ein alter Mann ausführte, mit den Wirkungen im Krippen- spiel verglichen, mit dem stockenden Vorwärtskommen der heiligen drei Könige, dem Aufglänzen des Sternes und dem befangenen Leben im heiligen Stall. Und im- mer war es ihm erschienen, als ob die Mutter die hinter ihm stand nicht genau genug alle Ereignisse verfolge, er hatte sie zu sich hingezogen, bis er sie an seinem Rücken fühlte, und hatte ihr solange mit lauten Ausrufen ver- borgenere Erscheinungen gezeigt, vielleicht ein Häs- chen, das vorn im Gras abwechselnd Männchen machte und sich dann wieder zum Lauf bereitete, bis die Mutter ihm den Mund zuhielt und wahrscheinlich in ihre frühe- re Unachtsamkeit verfiel. Der Tisch war freilich nicht dazu gemacht um an solche Dinge zu erinnern, aber in der Geschichte der Erfindungen bestand wohl ein ähn- lich undeutlicher Zusammenhang wie in Karls Erinne- rungen. Der Onkel war zum Unterschied von Karl mit diesem Schreibtisch durchaus nicht einverstanden, nur hatte er eben für Karl einen ordentlichen Schreibtisch kaufen wollen und solche Schreibtische waren jetzt sämtlich mit dieser Neueinrichtung versehn, deren Vor- zug nämlich auch darin bestand, bei älteren Schreibti- schen ohne große Kosten angebracht werden zu können. Immerhin unterließ der Onkel nicht, Karl zu raten, den Regulator möglichst gar nicht zu verwenden; um die Wirkung des Rates zu verstärken behauptete der Onkel, die Maschinerie sei sehr empfindlich, leicht zu verderben und die Wiederherstellung sehr kostspielig. Es war nicht schwer einzusehn, daß solche Bemerkungen nur Aus- flüchte waren, wenn man sich auch andererseits sagen mußte, daß der Regulator sehr leicht zu fixieren war, was der Onkel jedoch nicht tat.
In den ersten Tagen, an denen selbstverständlich zwi- schen Karl und dem Onkel häufigere Aussprachen statt- gefunden hatten, hatte Karl auch erzählt, daß er zu hause wenig zwar, aber gern Klavier gespielt habe, was er aller- dings lediglich mit den Anfangskenntnissen hatte be- streiten können, die ihm die Mutter beigebracht hatte. Karl war sich dessen wohl bewußt, daß eine solche Er- zählung gleichzeitig die Bitte um ein Klavier war, aber er hatte sich schon genügend umgesehn, um zu wissen, daß der Onkel auf keine Weise zu sparen brauchte. Trotz- dem wurde ihm diese Bitte nicht gleich gewährt, aber etwa acht Tage später sagte der Onkel fast in der Form eines widerwilligen Eingeständnisses, das Klavier sei eben angelangt und Karl könne, wenn er wolle den Transport überwachen. Das war allerdings eine leichte Arbeit, aber dabei nicht einmal viel leichter als der Transport selbst, denn im Haus war ein eigener Möbel- aufzug, in welchem ohne Gedränge ein ganzer Möbel- wagen Platz finden konnte und in diesem Aufzug schwebte auch das Piano zu Karls Zimmer hinauf. Karl selbst hätte zwar in dem gleichen Aufzug mit dem Piano und den Transportarbeitern fahren können, aber da gleich daneben ein Personenaufzug zur Benützung frei- stand, fuhr er in diesem, hielt sich mittelst eines Hebels stets in gleicher Höhe mit dem andern Aufzug und be- trachtete unverwandt durch die Glaswände das schöne Instrument das jetzt sein Eigentum war. Als er es in seinem Zimmer hatte und die ersten Töne anschlug, be- kam er eine so närrische Freude, daß er statt weiterzu- spielen aufsprang und aus einiger Entfernung die Hände in den Hüfen das Klavier lieber anstaunte.
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