Also Karl, rasch, nütze jetzt wenigstens die Zeit aus, ehe die Zeugen aufreten und alles über- schwemmen.

   Eben aber winkte der Kapitän dem Schubal ab, der daraufin sofort – denn seine Angelegenheit schien für ein Weilchen verschoben worden zu sein – beiseite trat und mit dem Diener, der sich ihm gleich angeschlossen hatte, eine leise Unterhaltung begann, bei der es an Sei- tenblicken nach dem Heizer und Karl sowie an den überzeugtesten Handbewegungen nicht fehlte. Schubal schien so seine nächste große Rede einzuüben.

   „Wollten Sie nicht den jungen Mann hier etwas fragen, Herr Jakob?" sagte der Kapitän unter allgemeiner Stille zu dem Herrn mit dem Bambusstöckchen.

   „Allerdings", sagte dieser mit einer kleinen Neigung für die Aufmerksamkeit dankend. Und fragte dann Karl nochmals: „Wie heißen Sie eigentlich?"

   Karl, welcher glaubte, es sei im Interesse der großen Hauptsache gelegen, wenn dieser Zwischenfall des hart- näckigen Fragers bald erledigt würde, antwortete kurz, ohne wie es seine Gewohnheit war, durch Vorlage des Passes sich vorzustellen, den er erst hätte suchen müs- sen: „Karl Roßmann."

„Aber", sagte der mit Jakob Angesprochene und trat zuerst fast ungläubig lächelnd zurück. Auch der Kapi- tän, der Oberkassier, der Schiffsofficier, ja sogar der Diener zeigten deutlich ein übermäßiges Erstaunen we- gen Karls Namen. Nur die Herren von der Hafenbehör- de und Schubal verhielten sich gleichgültig.

„Aber", wiederholte der Herr Jakob und trat mit et- was steifen Schritten auf Karl zu, „dann bin ich ja Dein Onkel Jakob und Du bist mein lieber Neffe. Ahnte ich es doch die ganze Zeit über", sagte er zum Kapitän hin, ehe er Karl umarmte und küßte, der alles stumm gesche- hen ließ.

„Wie heißen Sie?" fragte Karl nachdem er sich losge- lassen fühlte, zwar sehr höflich aber gänzlich ungerührt und strengte sich an, die Folgen abzusehn, welche dieses neue Ereignis für den Heizer haben könne. Vorläufig deutete nichts darauf hin, daß Schubal aus dieser Sache Nutzen ziehen könnte.

„Begreifen Sie doch junger Mann Ihr Glück", sagte der Kapitän, der durch die Frage die Würde der Person des Herrn Jakob verletzt glaubte, der sich zum Fenster gestellt hatte, offenbar um sein aufgeregtes Gesicht, das er überdies mit einem Taschentuch betupfe, den andern nicht zeigen zu müssen. „Es ist der Staatsrat Edward Jakob, der sich Ihnen als Ihr Onkel zu erkennen gegeben hat. Es erwartet Sie nunmehr, doch wohl ganz gegen Ihre bisherigen Erwartungen eine glänzende Laufahn. Versuchen Sie das einzusehn, so gut es im ersten Augen- blick geht und fassen Sie sich."

   „Ich habe allerdings einen Onkel Jakob in Amerika", sagte Karl zum Kapitän gewendet, „aber wenn ich recht verstanden habe, lautet bloß der Zuname des Herrn Staatsrat Jakob."

   „So ist es", sagte der Kapitän erwartungsvoll.

   „Nun, mein Onkel Jakob, welcher der Bruder meiner Mutter ist, heißt aber mit dem Taufnamen Jakob wäh- rend sein Zuname natürlich gleich jenem meiner Mutter lauten müßte, welche eine geborene Bendelmayer ist."

   „Meine Herren!" rief der Staatsrat, der von seinem Erholungsposten beim Fenster munter zurückkehrte, mit Bezug auf Karls Erklärung aus. Alle mit Ausnahme der Hafenbeamten brachen in Lachen aus, manche wie in Rührung, manche undurchdringlich.

   So lächerlich war das was ich gesagt habe doch keines- wegs, dachte Karl.

   „Meine Herren", wiederholte der Staatsrat, „Sie neh- men gegen meinen und gegen Ihren Willen an einer klei- nen Familienscene teil und ich kann deshalb nicht um- hin, Ihnen eine Erläuterung zu geben, da wie ich glaube nur der Herr Kapitän (diese Erwähnung hatte eine gegen- seitige Verbeugung zur Folge) vollständig unterrichtet ist."

Jetzt muß ich aber wirklich auf jedes Wort achtgeben, sagte sich Karl und freute sich als er bei einem Seitwärts- schauen bemerkte, daß in die Figur des Heizers das Le- ben zurückzukehren begann.

„Ich lebe seit allen den langen Jahren meines amerika- nischen Aufenthaltes – das Wort Aufenthalt paßt hier allerdings schlecht für den amerikanischen Bürger der ich mit ganzer Seele bin – seit allen den langen Jahren lebe ich also von meinen europäischen Verwandten voll- ständig abgetrennt, aus Gründen die erstens nicht hier- hergehören und die zweitens zu erzählen mich wirklich zu sehr hernehmen würde. Ich fürchte mich sogar vor dem Augenblick, wo ich gezwungen sein werde, sie mei- nem lieben Neffen zu erzählen, wobei sich leider ein offenes Wort über seine Eltern und ihren Anhang nicht vermeiden lassen wird."

„Er ist mein Onkel, kein Zweifel", sagte sich Karl und lauschte. „Wahrscheinlich hat er seinen Namen ändern lassen."

„Mein lieber Neffe ist nun von seinen Eltern – sagen wir nur das Wort, das die Sache auch wirklich bezeich- net – einfach beiseitegeschaf worden, wie man eine Katze vor die Tür wirf, wenn sie ärgert. Ich will durch- aus nicht beschönigen, was mein Neffe gemacht hat, daß er so gestraf wurde – beschönigen ist nicht amerikani- sche Art – aber sein Verschulden ist von der Art daß dessen einfaches Nennen schon genug Entschuldigung enthält."

„Das läßt sich hören", dachte Karl, „aber ich will nicht daß er es allen erzählt. Übrigens kann er es ja auch nicht wissen. Woher denn? Aber wir werden sehn, er wird schon alles wissen."

„Er wurde nämlich", fuhr der Onkel fort und stützte sich mit kleinen Neigungen auf das vor ihm eingestemm- te Bambusstöckchen wodurch es ihm tatsächlich gelang, der Sache einen Teil der unnötigen Feierlichkeit zu nehmen, die sie sonst unbedingt gehabt hätte – „er wur- de nämlich von einem Dienstmädchen Johanna Brum- mer, einer etwa fünfunddreißigjährigen Person verführt. Ich will mit dem Worte verführt meinen Neffen durch- aus nicht kränken, aber es ist doch schwer, ein anderes gleich passendes Wort zu finden."

Karl der schon ziemlich nahe zum Onkel getreten war, drehte sich hier um, um den Eindruck der Erzäh- lung von den Gesichtern der Anwesenden abzulesen. Keiner lachte, alle hörten geduldig und ernsthaf zu. Schließlich lacht man auch nicht über den Neffen eines Staatsrates bei der ersten Gelegenheit die sich darbietet. Eher hätte man schon sagen können, daß der Heizer wenn auch nur ganz wenig Karl anlächelte, was aber erstens als neues Lebenszeichen erfreulich und zweitens entschuldbar war, da ja Karl in der Kabine aus dieser Sache, die jetzt so publik wurde, ein besonderes Ge- heimnis hatte machen wollen.

   „Nun hat diese Brummer", setzte der Onkel fort, von meinem Neffen ein Kind bekommen, einen gesun- den Jungen, welcher in der Taufe den Namen Jakob erhielt, zweifellos in Gedanken an meine Wenigkeit, welche selbst in den sicher nur ganz nebensächlichen Erwähnungen meines Neffen auf das Mädchen einen großen Eindruck gemacht haben muß. Glücklicherwei- se, sage ich. Denn da die Eltern zur Vermeidung der Ahmentenzahlung oder sonstigen bis an sie selbst heran- reichenden Skandales – ich kenne wie ich betonen muß, weder die dortigen Gesetze noch die sonstigen Verhält- nisse der Eltern, sondern weiß nur von zwei Bettelbrie- fen der Eltern aus früherer Zeit, die ich zwar unbeant- wortet gelassen aber aufgehoben habe und welche meine einzige und überdies einseitige briefliche Verbindung mit ihnen in der ganzen Zeit bedeuten – da also die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung und des Skandales ihren Sohn meinen lieben Neffen nach Ameri- ka haben transportieren lassen, mit unverantwortlich un- genügender Ausrüstung, wie man sieht – wäre der Jun- ge, wenn man von den gerade noch in Amerika lebendi- gen Zeichen und Wundern absieht, auf sich allein ange- wiesen, wohl schon gleich in einem Gäßchen im Hafen von Newyork verkommen, wenn nicht jenes Dienst- mädchen in einem an mich gerichteten Brief, der nach langen Irrfahrten vorgestern in meinen Besitz kam, mir die ganze Geschichte, samt Personenbeschreibung mei- nes Neffen und vernünfigerweise auch Namensnen- nung des Schiffes mitgeteilt hätte. Wenn ich es darauf angelegt hätte, Sie meine Herren zu unterhalten, könnte ich wohl einige Stellen jenes Briefes" – er zog zwei rie- sige eng beschriebene Briefogen aus der Tasche und schwenkte sie – „hier vorlesen. Er würde sicher Wir- kung machen, da er mit einer etwas einfachen wenn auch immer gutgemeinten Schlauheit und mit viel Liebe zu dem Vater ihres Kindes geschrieben ist. Aber ich will weder Sie mehr unterhalten, als es zur Auflärung nötig ist noch vielleicht gar zum Empfang möglicherweise noch bestehende Gefühle meines Neffen verletzen, der den Brief, wenn er mag, in der Stille seines ihn schon erwartenden Zimmers zur Belehrung lesen kann." Karl hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen. Im Gedränge einer immer mehr zurückgestoßenen Vergan- genheit saß sie in ihrer Küche neben dem Küchen- schrank, auf dessen Platte sie ihren Elbogen stützte. Sie sah ihn an, wenn er hin und wieder in die Küche kam, um ein Glas zum Wassertrinken für seinen Vater zu ho- len oder einen Aufrag seiner Mutter auszurichten. Manchmal schrieb sie in der vertrackten Stellung seitlich vom Küchenschrank einen Brief und holte sich die Ein- gebungen von Karls Gesicht. Manchmal hielt sie die Au- gen mit der Hand verdeckt, dann drang keine Anrede zu ihr. Manchmal kniete sie in ihrem engen Zimmerchen neben der Küche und betete zu einem hölzernen Kreuz, Karl beobachtete sie dann nur mit Scheu im Vorüber- gehn durch die Spalte der ein wenig geöffneten Tür.