Es wurde viel gelacht und geplaudert. Aus allen seinen Worten sprach ein reiner, klarer, gesammelter Wille. So wie er die Anmut des Knaben mit der Würde des Mannes paarte, war er ganz Jüngling, und er erinnerte mich in seinem bescheidenen, selbstsicheren Lebensfrohsinn fast schmerzhaft deutlich an meinen jüngsten Bruder, der in den ersten Septembertagen in Frankreich gefallen war. »Sind Sie nicht Wandervogel, Wurche?« fragte ich ihn aus meinen Gedanken und Vergleichen heraus, und sieh', da hatte ich an die Dinge des Lebens gerührt, die ihm die liebsten waren! Aller Glanz und alles Heil deutscher Zukunft schien ihm aus dem Geist des Wandervogels zu kommen, und wenn ich an ihn denke, der diesen Geist rein und hell verkörperte, so gebe ich ihm recht ....

 

Die paar Wochen Lehrzeit im Warthelager haben dem Wesen des Jünglings nichts gegeben und nichts genommen. Er wurde rasch nacheinander Unteroffizier, Feldwebel und Leutnant. Mit seinen Aufgaben fand er sich glatt und sicher ab, und an den Verdrießlichkeiten und Kleinlichkeiten, wie sie der Friedensdrill mit sich bringt, ging er mit lässigem Hochmut vorüber. Einmal entschlüpfte auch mir, ich weiß nicht mehr über wen und worüber, ein verdrossenes Wort. Da schob er seinen Arm in meinen, sah mich mit seiner herzlich zwingenden Heiterkeit an und zitierte aus seinem Goethe:

 

»Wandrer, gegen solche Not

Wolltest du dich sträuben?

Wirbelwind und trocknen Kot

Laß ihn drehn und stäuben!«

 

Damit war die Sache abgetan. Wir wanderten in den Sonntagmorgen hinaus zum Wartheufer und sprachen von Flüssen, Bergen, Wäldern und Wolken ....

 

Es wurde Mai. Da zogen wir zum zweitenmal hinaus. Wohin? Das wußte von den paar hundert jungen Offizieren noch keiner, als uns schon die grellweißen Lichtkegel unsrer Autos zum Schlesischen Bahnhof in Berlin vorausrasten. Die Zukunft war voller Geheimnisse und Abenteuer, und aus dem Dunkel im Osten, in das sich die Lichter unsres Zuges hineinfraßen, wuchs der Schatten Hindenburgs ....

Der Zug fuhr ohne Halt durch die Mainacht, als wollte er Weg und Ziel nicht verraten. Nur hin und wieder flog ein grell von Bahnhofslichtern überstrahltes Schild mit einem Stationsnamen an uns vorüber. Es ging nach Osten. Der Schatten Hindenburgs wuchs und wuchs. Kühl und blausonnig ging der Maimorgen über den ostpreußischen Seen auf. Ging es nach Kurland, ging es nach Polen? Ernst Wurche zeigte hartnäckig, so oft wir hin- und herrieten, auf die Teile der großen Generalstabskarte, die mit dem tiefsten Blau und dem lichtesten Grün gezeichnet waren. Der helle, liebe Mai gaukelte dem Wandervogel die Lockbilder weiter, sonniger Seen, schattiger Wälder und taunasser Wiesen vor.

Auf dem Bahnhof eines ostpreußischen Städtchens wurden uns von lachenden Mädchen Erfrischungen und Blumen ins Abteil gereicht. Als der Zug sich unter Winken, Zurufen und Gelächter in Bewegung setzte, warf uns ein älterer Herr mit einem fast zornigen Gesicht ein Extrablatt zu. Wir fingen es auf und lasen. Italien hatte an Österreich den Krieg erklärt ....

Seit Tagen schon hatte man nichts anderes mehr erwartet. Es waren nicht wenige unter uns, die noch in Berlin darauf gewettet hatten, daß wir selbst an die italienische Front geworfen würden. Nun stand der italienische Verrat schwarz auf weiß wie eine häßliche Fratze vor uns. Ein Weilchen war es still. Dann fielen harte, starke und laute Worte. Einer der Jüngsten von uns, der noch nicht allzulang der Sekunda entlaufen war, steckte das Blatt auf die Spitze seines Degens und winkte damit zum Fenster hinaus. Ein paar helle Mädchenarme winkten fröhlich und übermütig zurück. Der alte Ostpreuße in seinem schwarzen Rock stand unbeweglich und sah uns fast drohend nach. Der Bahnhof floh zurück. Die Menschen auf dem Bahnsteig schrumpften zusammen.