In den ersten Tagen des Sommers, als sie hier eben erst eingezogen waren, rissen sie, wie es den Menschen natürlich ist, wenn sich in der ganz engen Gasse Geschrei oder Zank vernehmen ließ, schnell die Fenster auf, und sahen dann nichts, als ihr Ziegeldach vor sich und das der Hütte gegenüber. Sie lachten jedesmal und Heinrich sagte wohl: Wenn das Wesen des Epigramms (nach einer alten Theorie) in getäuschter Erwartung bestehe, so hätten sie wieder ein Epigramm genossen.

Nicht leicht ist es Menschen möglich gewesen, in einer so völlig abgeschlossenen Einsamkeit zu leben, als es diesen Beiden hier gelang, am getümmelvollen Saum einer stets bewegten Residenz. So abgeschieden von aller Welt waren sie, daß es eine Begebenheit schien, wenn ein Kater einmal behutsam über das fremde Dach spazierte, und jenseit, den spitzen Kamm der Ziegel sich hinüber fühlend, eine Bodenluke und dort einen Gevatter oder eine Gevatterin aufsuchte. Wie im Sommer die Schwalben aus dem angeklebten Neste in die Lücke der Feuermauer flogen und zwitschernd wiederkehrten, wie sie mit ihrer jungen Brut plauderten, war den Zuschauenden an ihrem Fenster eine wichtige Geschichte. Sie erschraken fast über das höchst bedeutsame Ereignis, als ein Knabe, ein Schornsteinfeger, sich einmal aus seinem engen, viereckigen Zwinger mit seinem Besen gegenüber erhob und einige Töne von sich gab, die ein Lied bedeuten sollten.

Diese Einsamkeit war den Liebenden aber doch erwünscht; denn so konnten sie am Fenster stehen, sich umarmend und küssend, ohne Furcht, daß irgend ein neugieriger Nachbar sie beobachten möchte. So phantasierten sie denn oft, daß jene trübseligen Feuermauern Felsen seien, einer wunderbaren Klippengegend der Schweiz, und nun betrachteten sie schwärmend die Wirkungen der Abendsonne, deren roter Schimmer an den Rissen zitterte, welche sich in dem Kalk oder rohen Stein gebildet hatten. Mit Sehnsucht konnten sie an solche Abende zurückdenken und sich dann aller der Gespräche erinnern, die sie geführt, der Gefühle, die sie gehabt, aller Scherze, die sie gewechselt hatten.

So war nun jetzt vorerst eine Waffe gegen den harten Frost gefunden, wenn er noch dauern oder gar zunehmen sollte. Da es dem Gatten nicht an Zeit fehlte, so erleichterte er sich sein Geschäft des Holzspaltens dadurch, daß er kleine Keile schnitt, die er in den Stamm trieb, und auf diese Weise den Kolben zwang, schneller und leichter nachzugeben.

Nach einigen Tagen fragte die Frau, indem sie seinem Keilschnitzen aufmerksam zusah: Heinrich, wenn diese Holzmasse, die Du hier aufgetürmt hast, nun auch verbraucht ist – wie dann?

Mein Herz, erwiderte er, der gute Horaz (wenn ich nicht irre) sagt unter andern seiner weisen Lehren einmal sehr kurz und bündig: » Carpe diem!« genieße den Tag, den du gerade vor dir hast, gib dich ihm ganz hin, bemächtige dich seiner, als eines, der niemals wiederkehrt: das kannst du aber gar nicht vollständig, wenn du auch nur an ein mögliches Morgen denkst; geschieht dies gar mit Sorgen und Zweifeln, so ist dir ja der gegenwärtige Tag, diese Stunde, der du dich erfreust, schon verloren, indem du sie durch ängstliche Fragen dir verkümmerst. Wir kommen nur zum Bewußtsein der Gegenwart, wir können nur leben und glücklich sein, wenn wir uns ganz in diese stürzen. Sieh! soviel liegt in den zwei Worten dieser lateinischen Sprache, die darum wohl mit Recht eine bündige und energische genannt wird, weil sie mit so kleinen Lauten so vielerlei ausdrücken kann. Und kennst Du nicht die Liederzeilen:

Alle Sorgen
Nur auf morgen;
Sorgen sind für morgen gut.

 

Richtig! erwiderte sie, haben wir uns doch seit einem Jahre diese Philosophie zu eigen gemacht und befinden uns wohl dabei.

So gingen die Tage hin und diese jungen Eheleute entbehrten nichts im Gefühle ihres Glücks, obgleich sie wie die Bettler lebten. An einem Morgen sagte der Gatte: Ich hatte in dieser Nacht einen wunderlichen Traum.

Erzähle ihn mir, Liebchen, rief Clara; wir geben auf unsere Träume viel zu wenig, die doch einen so wichtigen Teil von unserm Leben ausmachen. Ich bin überzeugt, wenn viele Menschen diese Erlebnisse der Nacht mehr in ihr Tagesleben hineinzögen, so würde ihnen auch ihr sogenanntes wirkliches Leben weniger traumartig und schlafbefangen sein. Außerdem gehören aber Deine Träume mir; denn sie sind Ergüsse Deines Herzens und Deiner Phantasie, und ich könnte eifersüchtig auf sie werden, wenn ich denke, daß mancher Traum Dich von mir trennt, daß Du, in ihm verstrickt, mich auf Stunden vergessen kannst, oder daß Du Dich wohl gar, wenn auch nur in Phantasie, in ein andres Wesen verliebst. Ist dergleichen nicht schon eine wirkliche Untreue, wenn Gemüt und Einbildung auf dergleichen nur verfallen können?

Es kommt nur darauf an, erwiderte Heinrich, ob und in wiefern unsre Träume uns gehören. Wer kann sagen, wie weit sie die geheime Gestaltung unseres Innern enthüllen. Wir sind oft grausam, lügenhaft, feige im Traum, ja ausgemacht niederträchtig, wir morden ein unschuldiges Kind mit Freuden, und sind doch überzeugt, daß alles dies unsrer wahren Natur fremd und widerwärtig sei. Die Träume sind auch sehr verschiedener Art. Wenn manche lichte an Offenbarung grenzen mögen, so erzeugen sich wohl andre aus Verstimmung des Magens oder andrer Organe. Denn diese wundersam komplizierte Mischung unsers Wesens von Materie und Geist, von Tier und Engel, läßt in allen Funktionen so unendlich verschiedene Nuancen zu, daß über dergleichen sich am wenigsten etwas Allgemeines sagen läßt.

O, das Allgemeine! rief sie aus, die Maximen, die Grundregeln und wie das Zeug alles heißt: Ich kann nicht aussprechen, wie Alles der Art mir immer zuwider und unverständlich gewesen ist. In der Liebe wird uns jene Ahndung recht deutlich, die schon unsre Kindheit erleuchtet, daß das Individuelle, das Einzige, das Wesen, das Rechte, das Poetische und Wahre sei. Der Alles allgemein machende Philosoph kann für Alles eine Regel finden, er kann Alles seinem sogenannten System einfügen, er zweifelt niemals, und seine Unfähigkeit, irgend etwas wahrhaft zu erleben, das ist eben jene Sicherheit, auf welche er pocht, jene Zweifelsunfähigkeit, die ihn so stolz macht. Der rechte Gedanke muß auch ein erlebter sein, die wahre Idee sich lebendig aus vielen Gedanken entwickeln und, plötzlich ins Sein getreten, rückstrahlend wieder tausend halb geborne Gedanken erleuchten und beseelen. – Aber ich erzähle Dir da meine Träume und doch solltest Du mir lieber den Deinigen vortragen, der besser und poetischer sein wird.

Du beschämst mich in der Tat, sagte Heinrich errötend, weil Du diesmal mein Traumtalent viel zu hoch anschlägst. Überzeuge Dich selbst.

Ich war noch bei meinem ehemaligen Gesandten dort in der großen Stadt und in der vornehmen Umgebung. Man sprach bei Tische von einer Auktion, die nächstens stattfinden werde. So oft das Wort Auktion bei Tische nur genannt wurde, befiel mich eine unbeschreibliche Angst, und doch begriff ich nicht warum. In meiner frühen Jugend war es meine Leidenschaft gewesen, bei Bücherauktionen zugegen zu sein, und wenn es mir auch fast immer unmöglich fiel, jene Werke, die ich liebte, zu erstehen, so hatte ich doch meine Freude daran, sie ausgeboten zu hören und mir die Möglichkeit zu denken, daß sie in meinen Besitz gelangen könnten. Die Kataloge der Auktionen konnte ich wie meine Lieblingsdichter lesen, und diese Torheit und Schwärmerei war nur eine von den vielen, an welchen meine Jugend litt; denn ich war weit von dem entfernt, was man einen soliden, verständigen Jüngling nennt, und ich zweifelte in einsamen Stunden oft, ob aus mir je ein sogenannter vernünftiger und brauchbarer Mann werden würde.

Clara lachte laut auf, umarmte ihn dann und küßte ihn heftig. Nein, rief sie, bis jetzt ist davon, dem Himmel sei Dank, noch nichts eingetroffen.