Holmes’ London kennt keine Bedrohung der Ordnung durch Verelendung oder durch Arbeitslosigkeit, ja, Arbeiter spielen so gut wie keine Rolle. Als die Niedrigsten auf der sozialen Stufenleiter erscheinen die kleinen Händler, die unteren Angestellten in Banken, Büros und Läden, die schlechtbezahlten Stenotypistinnen, die Kindermädchen und andere Dienstboten – Leute, für die die Welt grundsätzlich heil ist, wenn sie auch in einem speziellen Fall in Unordnung gebracht wurde. Und Holmes ist aufgeboten, diese punktuelle Unordnung mit seinen unvergleichlichen Methoden zu beheben, und er erweist sich damit als das Geschöpf eines Autors, dessen konservative Geisteshaltung einherging mit der Überzeugung, daß es den Wissenschaften, vor allem den angewandten Naturwissenschaften, gelingen werde, Korrekturbedürftiges ins Lot zu bringen. Er ist literarisches Produkt eines Positivismus, der in der Akkumulation, der Ordnung und der rechten Anwendung von Wissen das Heil für die Menschheit sah und der mit ihm ein Exempel dafür schuf, daß die Unordnung keine Chance besitzt, wenn sie aufgedeckt und ihr zur richtigen Zeit mit den richtigen Mitteln entgegengetreten wird. Wieder und wieder triumphiert er mit Hilfe der Logik und dem Einsatz wissenschaftlicher Methoden, von denen einige – so die Sicherung von Spuren, die Analyse von Tabakaschen, die Feststellung von Giften, die Identifizierung von Handschriften und die Dechiffrierung von Codes, die Bestimmung von Waffen und der Art ihres Gebrauchs nach der Form und der Lage von Wunden – seitdem in die kriminalistische Praxis eingegangen sind; und er triumphiert über Kräfte, die durch normwidrige Taten die prästabilierte Harmonie des bürgerlichen Lebens – und das heißt vor allem: ihre Moral und ihre Besitzverhältnisse – in Gefahr bringen.

  Die weitere Entwicklung der Kriminal-Literatur in Europa und Amerika folgte in ihrer inzwischen dem Vergessen anheimgefallenen Masse von Autoren -und Werken, aber auch mit ihren herausragenden, heute noch gelesenen Vertretern diesem von Conan Doyle vorgegebenen Grundschema. Man operierte – und operiert – immer wieder mit dem scharfsinnigen, hirnlich perfekt funktionierenden Rechercheur, der in einer nur auf das jeweilige Verbrechen zugeschnittenen, die gravierenden sozialen Belange weitgehend oder ganz ausklammernden Welt agiert und die bürgerliche Gesellschaft als Nährboden der Kriminalität ignoriert. Agatha Christie und Dorothy L. Sayers mit ihren Detektiven Hercule Poirot und Lord Peter Wimsey als den berühmtesten Nachfolgern der Holmes-Figur seien hier nur angeführt. Erst die Organisierung und Syndikalisierung des Verbrechens in großem Stil brachte um das Jahr 1930 in den USA einen neuen Typ der KriminalLiteratur hervor, die ›hard boiled story‹, in der das Kriminelle nicht mehr als das außergewöhnliche, den Bruch mit dem moralischen Kodex und allgemein akzeptierter Übereinkunft herbeiführende Ereignis angesehen, sondern als mit der sozialen Realität Amerikas eng verflochtene, als ein notwendiger Teil dieser auch in ihren legalen Bereichen von der Wolfsmoral beherrschten Wirklichkeit gewertet wird. Vor allem Dashiell Hammmett und Raymond Chandler repräsentierten die neue Art zu schreiben mit Erzählungen und Romanen, die sich zwar meist in den genrebedingten Voraussetzungen und den Konstruktionselementen nicht wesentlich von ihren Vorgängern aus dem 19. Jahrhundert unterschieden, jedoch den naiven Optimismus, durch die Aufklärung von Verbrechen die Welt wieder in Ordnung bringen zu können, aufgegeben hatten. Entsprechend wandelte sich die Gestalt des Detektivs, die in ihren bekanntesten Ausprägungen – Sam Spade und Philip Marlowe – nicht mehr den rundum gebildeten, genial analysierenden und im Fall der Not auch schlaggewaltigen Gentleman verkörpert, sondern den die allgemeine Unmoral der Gesellschaft durchschauenden Mann, der, selber fast auf der Stufe des Parias stehend und von Verbrechern wie von der Polizei gejagt, der herrschenden Ordnung mit Skepsis und Verachtung begegnet. Die Geschichten um Sherlock Holmes haben trotz mancher Unvollkommenheit und Einseitigkeit in der Spiegelung der sozialen Realität, die bei näherer Betrachtung der Abenteuer deutlich werden, trotz mancher Konstruktionsfehler, die Kollegen ihres Autors – meist zu eigenem höherem Ruhm – an ihnen zu entdecken glaubten, auch mancher Schematismen in der Führung der Haupt-, vor allem aber der Nebenfiguren, nichts von ihrem Reiz verloren. Ja es scheint, als hätten die Jahrzehnte das Vergnügen an ihnen noch erhöht, indem der Leser mit einer vergangenen Welt der angeblichen Sicherheit, Wertbeständigkeit und – trotz der sinistren Verbrechen – Ausgeglichenheit bekannt gemacht wird, die er nun aus zeitlicher Distanz und mit freundlich-kritischem Blick mustern kann. Gewiß, dem Freund der Kriminal-Literatur wurde seitdem Aufregenderes geboten, sicherlich auch Verzwickteres und Aufschlußreicheres aus diesem Genre. Doch umgibt den Mann aus der Baker Street wie keinen anderen seiner recherchierenden ›Kollegen‹ die Aura des ungebrochen Originellen, auch der Nostalgie, die allein uns schon dazu bringen kann, dem im historischen Kostüm auftretenden Helden unseren Applaus nicht zu versagen.


Berlin, im Januar 1982 Die Herausgeber



Ein Skandal in Bohemia


I


Für Sherlock Holmes ist sie die Frau geblieben. Selten habe ich gehört, daß er sie unter irgendeiner anderen Bezeichnung erwähnte. In seinen Augen beherrscht sie ihr ganzes Geschlecht und stellt es in den Schatten. Dabei war es nicht so, als hätte er etwas wie Liebe für Irene Adler empfunden. Alle Gefühle, und dieses im besonderen, waren seinem kühlen, präzisen, aber bewundernswert ausgewogenen Verstand zuwider. Er war nach meiner Meinung die perfekteste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat; aber als Liebhaber wäre er fehl am Platz gewesen. Er sprach nie von den sanfteren Leidenschaften als mit Spott und Hohn. Sie waren für ihn, den Beobachter, eine ausgezeichnete Sache, die sich hervorragend eignete, den Schleier über den Motiven und Taten der Menschen zu lüften. Aber zuzulassen, daß sie sich in sein vornehmes und wohlgeformtes Wesen mischten, bedeutete für ihn, den geübten Denker, einen verwirrenden Faktor einzuführen, der Zweifel an den Ergebnissen seines Denkens nach sich gezogen hätte. Sand in einem hochempfindlichen Gerät oder ein Sprung im Glas einer seiner äußerst starken Lupen wäre nicht störender gewesen als eine heftige Empfindung in einer Natur, wie die seine es war. Und so gab es nur eine Frau für ihn, und das war die verstorbene Irene Adler, zweifelhaften und fragwürdigen Angedenkens.

  Ich hatte Holmes in der letzten Zeit wenig zu Gesicht bekommen. Meine Heirat hatte uns auseinandergebracht.