Sowie er da ist, ist alles gut. Aber wie langweilig,
wenn er sich verspätet, es kann rein nichts geschehen ohne
ihn, alles steht, stockt, wartet. Ja und wie, wenn es bei diesem
Stauen und Anstehn bliebe? Wie, Herr Dramatiker, und du, Publikum,
welches das Leben kennt, wie, wenn er verschollen wäre, dieser
beliebte Lebemann oder dieser anmaßende junge Mensch, der in
allen Ehen schließt wie ein Nachschlüssel? Wie, wenn
ihn, zum Beispiel, der Teufel geholt hätte? Nehmen wirs an.
Man merkt auf einmal die künstliche Leere der Theater, sie
werden vermauert wie gefährliche Löcher, nur die Motten
aus den Logenrändern taumeln durch den haltlosen Hohlraum. Die
Dramatiker genießen nicht mehr ihre Villenviertel. Alle
öffentlichen Aufpassereien suchen für sie in entlegenen
Weltteilen nach dem Unersetzlichen, der die Handlung selbst
war.
Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese 'Dritten',
aber die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen wäre,
von denen noch nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie leiden und
handeln und sich nicht zu helfen wissen.
Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube,
ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem
niemand weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch,
dieses Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen
hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken:
Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts
Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es
möglich, daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu
schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß man die
Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man
sein Butterbrot ißt und einen Apfel?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und
Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der
Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich,
daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas
gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff
überzogen hat, so daß sie aussieht, wie die
Salonmöbel in den Sommerferien?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte
mißverstanden worden ist? Ist es möglich, daß die
Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen
gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler
Menschen erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie
herumstanden, weil er fremd war und starb?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu
müssen, was sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es
möglich, daß man jeden einzelnen erinnern
müßte, er sei ja aus allen Früheren entstanden,
wüßte es also und sollte sich nichts einreden lassen von
den anderen, die anderes wüßten?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine
Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es
möglich, daß alle Wirklichkeiten nichts sind für
sie; daß ihr Leben abläuft, mit nichts verknüpft,
wie eine Uhr in einem leeren Zimmer--?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts
weiß, die doch leben? Ist es möglich, daß man 'die
Frauen' sagt, 'die Kinder', 'die Knaben' und nicht ahnt (bei aller
Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst keine
Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige Einzahlen?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche 'Gott'
sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames?--Und sieh nur
zwei Schulkinder: Es kauft sich der eine ein Messer, und sein
Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen
einander nach einer Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich,
daß sie sich nur noch ganz entfernt ähnlich sehen,--so
verschieden haben sie sich in verschiedenen Händen entwickelt.
(Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles
abnutzen müßt.--) Ach so: Ist es möglich, zu
glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu
gebrauchen?
Ja, es ist möglich.
Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein
von Möglichkeit hat,--dann muß ja, um alles in der Welt,
etwas geschehen. Der Nächstbeste, der, welcher diesen
beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muß anfangen, etwas von
dem Versäumten zu tun; wenn es auch nur irgend einer ist,
durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da. Dieser
junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf
Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht. Ja
er wird schreiben müssen, das wird das Ende sein.
Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß ich
damals gewesen sein. Mein Vater hatte mich nach Urnekloster
mitgenommen. Ich weiß nicht, was ihn veranlaßte, seinen
Schwiegervater aufzusuchen. Die beiden Männer hatten sich
jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter, nicht gesehen, und mein
Vater selbst war noch nie in dem alten Schlosse gewesen, in welches
der Graf Brahe sich erst spät zurückgezogen hatte. Ich
habe das merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das,
als mein Großvater starb, in fremde Hände kam. So wie
ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist
es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum,
dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das diese beiden
Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Fragment,
aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut,--die
Zimmer, die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit
sich niederließen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in
deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer,
die hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane, auf
die man von einer kleinen Tür hinausgedrängt
wurde:--alles das ist noch in mir und wird nie aufhören, in
mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses Hauses aus
unendlicher Höhe in mich hineingestürzt und auf meinem
Grunde zerschlagen.
Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur jener
Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden
Abend um sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen,
ich erinnere mich nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin sie
aussahen; jedes mal, so oft die Familie eintrat, brannten die
Kerzen in den schweren Armleuchtern, und man vergaß in
einigen Minuten die Tageszeit und alles, was man draußen
gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich vermute, gewölbte Raum war
stärker als alles; er saugte mit seiner dunkelnden Höhe,
mit seinen niemals ganz aufgeklärten Ecken alle Bilder aus
einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz dafür zu
geben. Man saß da wie aufgelöst; völlig ohne
Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine
leere Stelle. Ich erinnere mich, daß dieser vernichtende
Zustand mir zuerst fast Übelkeit verursachte, eine Art
Seekrankheit, die ich nur dadurch überwand, daß ich mein
Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuß das Knie meines Vaters
berührte, der mir gegenübersaß. Erst später
fiel es mir auf, daß er dieses merkwürdige Benehmen zu
begreifen oder doch zu dulden schien, obwohl zwischen uns ein fast
kühles Verhältnis bestand, aus dem ein solches Gebaren
nicht erklärlich war. Es war indessen jene leise
Berührung, welche mir die Kraft gab, die langen Mahlzeiten
auszuhalten. Und nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte
ich, mit der fast unbegrenzten Anpasssung des Kindes, mich so sehr
an das Unheimliche jener Zusammenkünfte gewöhnt,
daß es mich keine Anstrengung mehr kostete, zwei Stunden bei
Tische zu sitzen; jetzt vergingen sie sogar
verhältnismäßig schnell, weil ich mich damit
beschäftigte, die Anwesenden zu beobachten.
Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte
auch die andern diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz
willkürlich war. Denn obwohl diese vier Menschen miteinander
in entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen standen, so
gehörten sie doch in keiner Weise zusammen. Der Oheim, welcher
neben mir saß, war ein alter Mann, dessen hartes und
verbranntes Gesicht einige schwarze Flecke zeigte, wie ich erfuhr,
die Folgen einer explodierten Pulverladung; mürrisch und
malkontent wie er war, hatte er als Major seinen Abschied genommen,
und nun machte er in einem mir unbekannten Raum des Schlosses
alchymistische Versuche, war auch, wie ich die Diener sagen
hörte, mit einem Stockhause in Verbindung, von wo man ihm ein-
oder zweimal jährlich Leichen zusandte, mit denen er sich Tage
und Nächte einschloß und die er zerschnitt und auf eine
geheimnisvolle Art zubereitete, so daß sie der Verwesung
widerstanden. Ihm gegenüber war der Platz des Fräuleins
Mathilde Brahe.
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