Aber das Schreckliche an der Sache sei, daß der Director zu ihm gesagt habe: »Ihr werdet nicht immer die Herren bleiben!« Er stehe im Verdachte eines Republikaners. Die bemerkenswerthen Reden bei Beginn der Session des Jahres 1869 und die dumpfe Furcht vor den nächsten allgemeinen Wahlen hätten die Regierung mißtrauisch gemacht. Ohne die ausgezeichnete Empfehlung des Präsidenten Grandmorin würde man ihn zweifellos schon seines Amtes enthoben haben. Schließlich hätte er doch den von dem Letzteren gerathenen und aufgesetzten Entschuldigungsbrief unterschreiben müssen.

»Also? Hatte ich nicht Recht, ihm zu schreiben und ihm heute früh mit Dir einen gemeinsamen Besuch zu machen, ehe Du Deine Wäsche erhieltest?« unterbrach ihn lebhaft Séverine. »Ich wußte ganz genau, daß er uns aus der Klemme ziehen würde.«

»Ja, er liebt Dich sehr,« antwortete Roubaud, »und sein Arm reicht weit in unserer Gesellschaft … Was hat das nun für einen Nutzen, ein tüchtiger Beamter zu sein? Natürlich hat man mir auch Schmeicheleien gesagt: ich hätte zwar nicht genug Initiative, aber ich führte mich gut, sei gehorsam und entschlossen. Und trotzdem sage ich Dir, meine Theure, wärest Du nicht meine Frau und Grandmorin nicht aus Freundschaft für Dich für mich eingetreten, so hätte ich meine Strafversetzung nach einer kleinen Station in der Tasche gehabt.«

»Zweifellos, sein Arm reicht weit,« wiederholte Séverine, als spräche sie zu sich selbst, während ihre Augen die Leere suchten.

Es herrschte Schweigen, Séverine verharrte mit ihren sich vergrößernden und wie abwesend starrenden Augen in derselben Stellung und hörte mit dem Essen auf. Sie rief sich jedenfalls die Tage ihrer Kindheit in die Erinnerung, die sie dort unten in Schloß Doinville, vier Meilen von Rouen entfernt, zugebracht hatte. Sie hatte nie ihre Mutter gekannt. Ihr Vater, der Gärtner Aubry, starb gerade, als sie ihr dreizehntes Lebensjahr begann. Schon damals hatte der Präsident, der Wittwer war, sie seiner Tochter Berthe beigesellt und unter die Obhut seiner Schwester, Madame Bonnehon, der Gattin eines Kaufmannes und ebenfalls Wittwe, heute Besitzerin des Schlosses, gestellt. Berthe, die zwei Jahre älter war als sie, hatte sechs Monate nach ihr einen Herrn von Lachesnaye, Rath beim Gerichtshof in Rouen, ein dürres, gelbes Männchen, geheirathet. Im vergangenen Jahre stand der Präsident noch diesem Gerichte vor. Dann hatte er sich nach einer brillanten Carrière in den Ruhestand zurückgezogen. Im Jahre 1804 geboren, Substitut in Digne zu Beginn des Jahres 1830, dann in Fontainebleau und Paris, später Procurator in Troyes, Generaladvocat in Rennes, wurde er schließlich erster Präsident in Rouen. Mehrfacher Millionär, gehörte er dem Generalrath seit 1855 an und war am Tage seines Abschieds zum Kommandeur der Ehrenlegion ernannt worden. Soweit sie zurückdenken konnte, sah sie ihn noch als untersetzten, kräftig gebauten Mann, dessen bürstenförmig stehende Haare schon frühzeitig eine weiße Färbung zeigten und zwar dieses goldne Weiß, wie es aus dem einstigen Blond hervorgeht, den Backenbart glatt abrasirt bis auf die Fraise, ohne Schnurrbart, mit einem eckigen Gesicht, welches die ein hartes Blau weisenden Augen und die stark entwickelte Nase streng erscheinen ließen. Er machte alles um sich herum erzittern.

»He! An was denkst Du?« mußte Roubaud zweimal laut fragen.

Sie fuhr zusammen und ein leiser Schauder überlief sie, als schüttele sie ein jäher Schrecken.

»O, an gar nichts.«

»Du issest nicht, hast Du keinen Hunger mehr?«

»O doch …Du sollst gleich sehen.«

Séverine lehrte ihr Glas Wein und vollendete dann die Zerlegung der Fleischspeise auf ihrem Teller. Jetzt gab es aber einen Aufstand: sie hatten mit dem Laib Brod schon vollständig aufgeräumt und es blieb ihnen keine Krume mehr für den Käse. Erst Geschrei, dann Gelächter, als sie, nachdem sie alles durchsucht hatten, im Buffet der Mutter Victoire ein Stück altbackenes Brod entdeckten. Obgleich das Fenster offen stand, war es noch immer heiß im Zimmer und die junge Frau, welche gerade vor dem Ofen saß, kühlte sich kaum ab, sondern wurde immer rother und aufgeregter durch das Unerwartete dieses durchschwatzten Frühstücks in diesem Zimmer. Bei der Erwähnung der Mutter Victoire kam Roubaud nochmals auf Grandmorin zu sprechen: auch eine, die Jenem ein freundliches Loos verdankte! Sie war eine Verführte, deren Kind starb, dann Amme von Séverine, deren Geburt ihrer Mutter das Leben kostete; später, als Frau eines Heizers der Gesellschaft, ernährte sie sich in Paris elend mit Nähen, denn ihr Mann verzehrte die ganzen Einkünfte, bis die Wiederbegegnung mit ihrem Milchkinde die alten Bande auf’s Neue knüpfte und Séverine auch Jene zu einem Schützlinge des Präsidenten machte. Und heute hatte sie durch seine Vermittlung den Posten in der Bedürfnißanstalt und zwar als Wärterin des Extracabinets in der Damenabtheilung inne, die beste Stelle. Die Gesellschaft gab ihr nur hundert Franken jährlich, sie machte aber daraus mit Hilfe der Trinkgelder an vierzehnhundert, ohne ihre Wohnung, dieses Zimmer, zu rechnen, dessen Heizung sie sogar frei hatte. Alles in Allem also eine sehr angenehme Situation. Und Roubaud rechnete aus, daß, wenn Pecqueux, ihr Gatte, seine zweitausendachthundert Franken Fixum und Prämien mit in die Wirthschaft stecken würde, anstatt sie auf beiden Endstationen der Linie in Flüssigkeiten umzusetzen, das Ehepaar mehr als viertausend Franken verdienen würde, das heißt also das Doppelte von seinem Einkommen als Unterinspector des Bahnhofs in Havre.

»Selbstverständlich,« schloß er, »kann man nicht jeder Frau eine Dienstleistung in den Bedürfnißanstalten zumuthen, aber gar so albern ist auch dieses Amt noch nicht.« Inzwischen hatten sie ihren mächtigsten Hunger bereits gestillt und sie aßen nur noch mechanisch; sie schnitten den Käse in kleine Stückchen, um das Mahl in die Länge zu ziehen. Auch ihre Worte flossen langsamer von ihren Lippen.

»Da fällt mir gerade ein,« rief er, »ich habe Dich zu fragen vergessen, warum hast Du die Einladung des Präsidenten zu einem zwei- oder dreitägigen Besuch in Doinville ausgeschlagen?«

Sein Geist führte in dem Wohlgefühle der Verdauung ihm soeben noch einmal den Besuch vor Augen, den sie heute früh dicht beim Bahnhof in dem Hotel der Rue du Nocher abgestattet hatten. Er sah sich wieder in dem großen ernsten Kabinet, er hörte den Präsident ihnen erzählen, daß er am nächsten Tage nach Doinville reisen würde. Dann hatte Jener unter einer plötzlichen Eingebung ihnen angeboten, noch heute Abend mit ihnen gemeinsam den sechs Uhr dreißig Zug zu benutzen, um in Person sein Pathchen zu seiner Schwester zu bringen, die schon lange nach ihr Sehnsucht habe. Die junge Frau aber hatte alle möglichen Verhinderungsgründe vorgeschützt.

»Ich kann in diesem kleinen Ausfluge nichts Schlimmes finden,« fuhr Roubaud fort. »Du hättest bis zum Donnerstag dort bleiben können, ich würde mich schon bis dahin allein beholfen haben … Du mußt doch zugestehen, daß wir in unsrer Stellung Jene nöthig haben.