Und wenn die Schulmeister der deutschen Bourgeoisie die Erinnerung an die großen deutschen Philosophen und die von ihnen getragne Dialektik ertränkt haben im Sumpf eines öden Eklektizismus, so sehr, daß wir die moderne Naturwissenschaft anzurufen genötigt sind als Zeugin für die Bewährung der Dialektik in der Wirklichkeit – wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.

London, 21. September 1882

Friedrich Engels[188]

 

Fußnoten

 

1 »In Deutschland« ist ein Schreibfehler. Es muß heißen: »bei Deutschen«. Denn so unumgänglich einerseits die deutsche Dialektik war bei der Genesis des wissenschaftlichen Sozialismus, ebenso unumgänglich dabei waren die entwickelten ökonomischen und politischen Verhältnisse Englands und Frankreichs. Die, anfangs der vierziger Jahre noch weit mehr als heute, zurückgebliebne ökonomische und politische Entwicklungsstufe Deutschlands konnte höchstens sozialistische Karikaturen erzeugen (vgl. »Kommun. Manifest«, III, 1, c: »Der deutsche oder ›wahre‹ Sozialismus«). Erst indem die in England und Frankreich erzeugten ökonomischen und politischen Zustände der deutsch-dialektischen Kritik unterworfen wurden, erst da konnte ein wirkliches Resultat gewonnen werden. Nach dieser Seite hin ist also der wissenschaftliche Sozialismus kein ausschließlich deutsches, sondern ebensosehr ein internationales Produkt. [Diese Fußnote wurde von Engels in der dritten deutschen Auflage von 1883 eingefügt.]

 

Vorwort zur vierten Auflage

Meine Vermutung, daß der Inhalt dieser Schrift unsern deutschen Arbeitern wenig Schwierigkeiten machen werde, hat sich bestätigt. Wenigstens sind seit März 1883, wo die erste Auflage erschien, drei Auflagen von im ganzen 10000 Exemplaren abgesetzt worden, und das unter der Herrschaft des verblichnen Sozialistengesetzes – zugleich ein neues Beispiel davon, wie ohnmächtig Polizeiverbote sind gegenüber einer Bewegung wie die des modernen Proletariats.

Seit der ersten Auflage sind noch verschiedne Übersetzungen in fremde Sprachen erschienen: eine italienische von Pasquale Martignetti: »Il Socialismo Utopico e il Socialismo scientifico«, Benevento 1883; eine russische: »Razvitie naucznago Socializma«, Genf 1884; eine dänische: »Socialismens Udvikling fra Utopi til Videnskab«, in »Socialistisk Bibliotek«, I. Bind, Kjöbenhavn 1885; eine spanische: »Socialismo utópico y Socialismo cientifico«, Madrid 1886; und eine holländische: »De Ontwikkeling van het Socialisme van Utopie tot Wetenschap«, Haag 1886.

Die gegenwärtige Auflage hat verschiedne kleine Abänderungen erfahren; wichtigere Zusätze sind nur an zwei Stellen gemacht: im ersten Kapitel über Saint-Simon, der gegenüber Fourier und Owen doch etwas zu kurz kam, und gegen Ende des dritten über die inzwischen wichtig gewordne neue Produktionsform der »Trusts«.

London, 12. Mai 1891

Friedrich Engels[523]

 

I

Der moderne Sozialismus ist seinem Inhalte nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der heutigen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Kapitalisten und Lohnarbeitern, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie. Aber seiner theoretischen Form nach erscheint er anfänglich als eine weitergetriebne, angeblich konsequentere Fortführung der von den großen französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts aufgestellten Grundsätze. Wie jede neue Theorie, mußte er zunächst anknüpfen an das vorgefundne Gedankenmaterial, so sehr auch seine Wurzel in den materiellen ökonomischen Tatsachen lag.

Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, traten selbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sie auch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte sein Dasein vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder aufs Dasein verzichten. Der denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt. Es war die Zeit, wo, wie Hegel sagt, die Welt auf den Kopf gestellt wurde2, zuerst in dem Sinn,[189] daß der menschliche Kopf und die durch sein Denken gefundnen Sätze den Anspruch machten, als Grundlage aller menschlichen Handlung und Vergesellschaftung zu gelten; dann aber später auch in dem weitem Sinn, daß die Wirklichkeit, die diesen Sätzen widersprach, in der Tat von oben bis unten umgekehrt wurde. Alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen, alle altüberlieferten Vorstellungen wurden als unvernünftig in die Rumpelkammer geworfen; die Welt hatte sich bisher lediglich von Vorurteilen leiten lassen; alles Vergangne verdiente nur Mitleid und Verachtung. Jetzt erst brach das Tageslicht, das Reich der Vernunft an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte.

Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; daß die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz; daß die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz; daß als eines der wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde – das bürgerliche Eigentum; und daß der Vernunftstaat, der Rousseausche Gesellschaftsvertrag ins Leben trat und nur ins Leben treten konnte als bürgerliche, demokratische Republik. So wenig wie alle ihre Vorgänger konnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts hinaus über die Schranken, die ihnen ihre eigne Epoche gesetzt hatte.

Aber neben dem Gegensatz von Feudaladel und dem als Vertreterin der gesamten übrigen Gesellschaft auftretenden Bürgertum bestand der allgemeine Gegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten, von reichen Müßiggängern und arbeitenden Armen. War es doch gerade dieser Umstand, der es den Vertretern der Bourgeoisie möglich machte, sich als Vertreter nicht einer besondern Klasse, sondern der ganzen leidenden Menschheit hinzustellen. Noch mehr. Von seinem Ursprung an war das Bürgertum behaftet mit seinem Gegensatz: Kapitalisten können nicht bestehn ohne Lohnarbeiter, und im selben Verhältnis wie der mittelalterliche Zunftbürger sich[190] zum modernen Bourgeois, im selben Verhältnis entwickelte sich auch der Zunftgeselle und nichtzünftige Taglöhner zum Proletarier. Und wenn auch im ganzen und großen das Bürgertum beanspruchen durfte, im Kampf mit dem Adel gleichzeitig die Interessen der verschiednen arbeitenden Klassen jener Zeit mit zu vertreten, so brachen doch, bei jeder großen bürgerlichen Bewegung, selbständige Regungen derjenigen Klasse hervor, die die mehr oder weniger entwickelte Vorgängerin des modernen Proletariats war. So in der deutschen Reformations- und der Bauernkriegszeit die Wiedertäufer und Thomas Münzer; in der großen englischen Revolution die Levellers; in der großen französischen Revolution Babeuf. Neben diesen revolutionären Schilderhebungen einer noch unfertigen Klasse gingen entsprechende theoretische Kundgebungen; im 16.