Die gemeine Natur ist dadurch ausgezeichnet, dass sie ihren Vortheil unverrückt im Auge behält und dass diess Denken an Zweck und Vortheil selbst stärker, als die stärksten Triebe in ihr ist: sich durch jene Triebe nicht zu unzweckmässigen Handlungen verleiten lassen − das ist ihre Weisheit und ihr Selbstgefühl. Im Vergleich mit ihr ist die höhere Natur die unvernünftigere: − denn der Edle, Grossmüthige, Aufopfernde unterliegt in der That seinen Trieben, und in seinen besten Augenblicken pausirt seine Vernunft. Ein Thier, das mit Lebensgefahr seine Jungen beschützt oder in der Zeit der Brunst dem Weibchen auch in den Tod folgt, denkt nicht an die Gefahr und den Tod, seine Vernunft pausirt ebenfalls, weil die Lust an seiner Brut oder an dem Weibchen und die Furcht, dieser Lust beraubt zu werden es ganz beherrschen; es wird dümmer, als es sonst ist, gleich dem Edlen und Grossmüthigen. Dieser besitzt einige Lust− und Unlust−Gefühle in solcher Stärke, dass der Intellect dagegen schweigen oder sich zu ihrem Dienste hergeben muss: es tritt dann bei ihnen das Herz in den Kopf und man spricht nunmehr von

“Leidenschaft”. (Hier und da kommt auch wohl der Gegensatz dazu und gleichsam die

“Umkehrung der Leidenschaft” vor, zum Beispiel bei Fontenelle, dem Jemand einmal die Hand auf das Herz legte, mit den Worten: “Was Sie da haben, mein Theuerster, ist auch Gehirn”.) Die Unvernunft oder Quervernunft der Leidenschaft ist es, die der Gemeine am Edlen verachtet, zumal wenn diese sich auf Objecte richtet, deren Werth ihm ganz phantastisch und willkürlich zu sein scheint. Er ärgert sich über Den, welcher der Leidenschaft des Bauches unterliegt, aber er begreift doch den Reiz, welcher hier den Tyrannen macht; aber er begreift es nicht, wie man zum Beispiel einer Leidenschaft der Erkenntniss zu Liebe seine Gesundheit und Ehre aufs Spiel setzen könne. Der Geschmack der höheren Natur richtet sich auf Ausnahmen, auf Dinge, die gewöhnlich kalt lassen und keine Süssigkeit zu haben scheinen; die höhere Natur hat ein singuläres Werthmaass. Dazu ist sie meistens des Glaubens, nicht ein singuläres Werthmaass in ihrer Idiosynkrasie des Geschmacks zu haben, sie setzt vielmehr ihre Werthe und Unwerthe als die überhaupt gültigen Werthe und Unwerthe an, und geräth damit in’s Unverständliche und Unpraktische. Es ist sehr selten, dass eine höhere Natur soviel Vernunft übrig behält, um Alltags−Menschen als solche zu verstehen und zu behandeln: zu allermeist glaubt sie an ihre Leidenschaft als an die verborgen gehaltene Leidenschaft Aller und ist gerade in diesem Glauben voller Gluth und Beredtsamkeit. Wenn nun solche Ausnahme−Menschen sich selber nicht als Ausnahmen fühlen, wie sollten sie jemals die gemeinen Naturen verstehen und die Regel billig abschätzen können! − und so reden auch sie von der Thorheit, Zweckwidrigkeit und Phantasterei der Menschheit, voller Verwunderung, wie toll die Welt laufe und warum sie sich nicht zu dem bekennen wolle, was, “ihr Noth thue”.

− Diess ist die ewige Ungerechtigkeit der Edlen.

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4.

Das Arterhaltende. − Die stärksten und bösesten Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten vorwärts gebracht: sie entzündeten immer wieder die einschlafenden Leidenschaften − alle geordnete Gesellschaft schläfert die Leidenschaften ein −, sie weckten immer wieder den Sinn der Vergleichung, des Widerspruchs, der Lust am Neuen, Gewagten, Unerprobten, sie zwangen die Menschen, Meinungen gegen Meinungen, Musterbilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den Waffen, mit Umsturz der Grenzsteine, durch Verletzung der Pietäten zumeist: aber auch durch neue Religionen und Moralen! Die selbe “Bosheit” ist in jedem Lehrer und Prediger des Neuen, − welche einen Eroberer verrufen Macht, wenn sie auch sich feiner äussert, nicht sogleich die Muskeln in Bewegung setzt und eben desshalb auch nicht so verrufen macht! Das Neue ist aber unter allen Umständen das Böse, als Das, was erobern, die alten Grenzsteine und die alten Pietäten umwerfen will; und nur das Alte ist das Gute! Die guten Menschen jeder Zeit sind die, welche die alten Gedanken in die Tiefe graben und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauer des Geistes. Aber jedes Land wird endlich ausgenützt, und immer wieder muss die Pflugschar des Bösen kommen. − Es giebt jetzt eine gründliche Irrlehre der Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert wird: nach ihr sind die Urtheile “gut” und

“böse” die Aufsammlung der Erfahrungen über “zweckmässig” und “unzweckmässig”; nach ihr ist das Gut−Genannte das Arterhaltende, das Bös−Genannte aber das der Art Schädliche. In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in eben so hohem Grade zweckmässig, arterhaltend und unentbehrlich wie die guten: − nur ist ihre Function eine verschiedene.

5.

Unbedingte Pflichten. − Alle Menschen, welche fühlen, dass sie die stärksten Worte und Klänge, die beredtesten Gebärden und Stellungen nöthig haben, um überhaupt zu wirken, Revolutions−Politiker, Socialisten, Bussprediger mit und ohne Christenthum, bei denen allen es keine halben Erfolge geben darf: alle diese reden von “Pflichten”, und zwar immer von Pflichten mit dem Charakter des Unbedingten − ohne solche hätten sie kein Recht zu ihrem grossen Pathos: das wissen sie recht wohl! So greifen sie nach Philosophieen der Moral, welche irgend einen kategorischen Imperativ predigen, oder sie nehmen ein gutes Stück Religion in sich hinein, wie diess zum Beispiel Mazzini gethan hat. Weil sie wollen, dass ihnen unbedingt vertraut werde, haben sie zuerst nöthig, dass sie sich selber unbedingt vertrauen, auf Grund irgend eines letzten indiscutabeln und an sich erhabenen Gebotes, als dessen Diener und Werkzeuge sie sich fühlen und ausgeben möchten. Hier haben wir die natürlichsten und meistens sehr einflussreichen Gegner der moralischen Aufklärung und Skepsis: aber sie sind selten. Dagegen giebt es eine sehr umfängliche Classe dieser Gegner überall dort, wo das Interesse die Unterwerfung lehrt, während Ruf und Ehre die Unterwerfung zu verbieten scheinen. Wer sich entwürdigt fühlt bei dem Gedanken, das Werkzeug eines Fürsten oder einer Partei und Secte oder gar einer Geldmacht zu sein, zum Beispiel als Abkömmling einer alten, stolzen Familie, aber eben diess Werkzeug sein will 4.

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oder sein muss, vor sich und vor der Oeffentlichkeit, der hat pathetische Principien nöthig, die man jederzeit in den Mund nehmen kann: − Principien eines unbedingten Sollens, welchen man sich ohne Beschämung unterwerfen und unterworfen zeigen darf. Alle feinere Servilität hält am kategorischen Imperativ fest und ist der Todfeind Derer, welche der Pflicht den unbedingten Charakter nehmen wollen: so fordert es von ihnen der Anstand, und nicht nur der Anstand.

6.

Verlust an Würde.