Ich will, dass man sich auch meinen Phantasieen unterwerfe und es ganz einfach finde, wenn ich mich diesen oder jenen Zerstreuungen hingebe.” So sprach Napoleon einmal zu seiner Gemahlin, als diese Gründe hatte, die eheliche Treue ihres 23.
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Gatten in Frage zu ziehen. − Die Zeiten der Corruption sind die, in welchen die Aepfel vom Baume fallen: ich meine die Individuen, die Samenträger der Zukunft, die Urheber der geistigen Colonisation und Neubildung von Staats− und Gesellschaftsverbänden.
Corruption ist nur ein Schimpfwort für die Herbstzeiten eines Volkes.
24.
Verschiedene Unzufriedenheit. − Die schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriedenen sind die Erfindsamen für die Verschönerung und Vertiefung des Lebens; die starken Unzufriedenen − die Mannspersonen unter ihnen, im Bilde zu bleiben − für Verbesserung und Sicherung des Lebens. Die Ersteren zeigen darin ihre Schwäche und Weiberart, dass sie sich gerne zeitweilig täuschen lassen und wohl schon mit ein Wenig Rausch und Schwärmerei einmal fürlieb nehmen, aber im Ganzen nie zu befriedigen sind und an der Unheilbarkeit ihrer Unzufriedenheit leiden; überdiess sind sie die Förderer aller Derer, welche opiatische und narkotische Tröstungen zu schaffen wissen, und eben darum jenen gram, die den Arzt höher als den Priester schätzen, − dadurch unterhalten sie die Fortdauer der wirklichen Nothstände! Hätte es nicht seit den Zeiten des Mittelalters eine Ueberzahl von Unzufriedenen dieser Art in Europa gegeben, so würde vielleicht die berühmte europäische Fähigkeit zur beständigen Verwandelung gar nicht entstanden sein: denn die Ansprüche der starken Unzufriedenen sind zu grob und im Grunde zu anspruchslos, um nicht endlich einmal zur Ruhe gebracht werden zu können. China ist das Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit im Grossen und die Fähigkeit der Verwandelung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben ist; und die Socialisten und Staats−Götzendiener Europa’s könnten es mit ihren Maassregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens auch in Europa leicht zu chinesischen Zuständen und einem chinesischen “Glücke”
bringen, vorausgesetzt, dass sie hier zuerst jene kränklichere, zartere, weiblichere, einstweilen noch überreichlich vorhandene Unzufriedenheit und Romantik ausrotten könnten. Europa ist ein Kranker, der seiner Unheilbarkeit und ewigen Verwandelung seines Leidens den höchsten Dank schuldig ist; diese beständigen neuen Lagen, diese ebenso beständigen neuen Gefahren, Schmerzen und Auskunftsmittel haben zuletzt eine intellectuale Reizbarkeit erzeugt, welche beinahe so viel, als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genie’s ist.
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Nicht zur Erkenntniss vorausbestimmt. − Es giebt eine gar nicht seltene blöde Demüthigkeit, mit der behaftet man ein für alle Mal nicht zum Jünger der Erkenntniss taugt. Nämlich: in dem Augenblick, wo ein Mensch dieser Art etwas Auffälliges wahrnimmt, dreht er sich gleichsam auf dem Fusse um und sagt sich: “Du hast dich getäuscht! Wo hast du deine Sinne gehabt! Diess darf nicht die Wahrheit sein!” − und nun, statt noch einmal schärfer hinzusehen und hinzuhören, läuft er wie eingeschüchtert dem auffälligen Dinge aus dem Wege und sucht es sich so schnell wie möglich aus dem Kopfe zu schlagen. Sein innerlicher Kanon nämlich lautet: Ich will Nichts sehen, was der 24.
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üblichen Meinung über die Dinge widerspricht! Bin ich dazu gemacht, neue Wahrheiten zu entdecken? Es giebt schon der alten zu viele.”
26.
Was heisst Leben? − Leben − das heisst: fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will; Leben − das heisst: grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben − das heisst also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? − Und doch hat der alte Moses gesagt: Du sollst nicht tödten!
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Der Entsagende.− Was thut der Entsagende? Er strebt nach einer höheren Welt, er will weiter und ferner und höher fliegen, als alle Menschen der Bejahung, − er wirft Vieles weg, was seinen Flug beschweren würde, und Manches darunter, was ihm nicht unwerth, nicht unliebsam ist: er opfert es seiner Begierde zur Höhe. Dieses Opfern, dieses Wegwerfen ist nun gerade Das, was allein sichtbar an ihm wird: darnach giebt man ihm den Namen des Entsagenden, und als dieser steht er vor uns, eingehüllt in seine Kapuze und wie die Seele eines härenen Hemdes. Mit diesem Effecte, den er auf uns macht, ist er aber wohl zufrieden: er will vor uns seine Begierde, seinen Stolz, seine Absicht, über uns hinauszufliegen, verborgen halten. − ja! Er ist klüger, als wir dachten, und so höflich gegen uns − dieser Bejahende! Denn das ist er gleich uns, auch indem er entsagt.
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Mit seinem Besten schaden. − Unsere Stärken treiben uns mitunter so weit vor, dass wir unsere Schwächen nicht mehr aushalten können und an ihnen zu Grunde gehen: wir sehen auch wohl diesen Ausgang voraus und wollen es trotzdem nicht anders. Da werden wir hart gegen Das an uns, was geschont sein will, und unsere Grösse ist auch unsere Unbarmherzigkeit. − Ein solches Erlebniss, das wir zuletzt mit dem Leben bezahlen müssen, ist ein Gleichniss für das gesammte Wirken grosser Menschen auf Andere und auf ihre Zeit: − gerade mit ihrem Besten, mit dem, was nur sie können, richten sie viele Schwache, Unsichere, Werdende, Wollende zu Grunde, und sind hierdurch schädlich. Ja es kann der Fall vorkommen, dass sie, im Ganzen gerechnet, nur schaden, weil ihr Bestes allein von Solchen angenommen und gleichsam aufgetrunken wird, welche an ihm, wie an einem zu starken Getränke, ihren Verstand und ihre Selbstsucht verlieren: sie werden so berauscht, dass sie ihre Glieder auf allen den Irrwegen brechen müssen, wohin sie der Rausch treibt.
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