Sein Werk spricht es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er gesehen haben möchte: es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie selber: −
aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und Heisshungers. Mit ihr hebt er Den, welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle “Werke”
hinaus und giebt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer nie sonst steigen: und so, selber zu Dichtern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber ihres Glückes eine Bewunderung, wie als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision wirklich gesehen und mitgetheilt hätte. Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an’s Ziel gekommen zu sein.
80.
Kunst und Natur. − Die Griechen (oder wenigstens die Athener) hörten gerne gut reden: ja sie hatten einen gierigen Hang darnach, der sie mehr als alles Andere von den Nicht−Griechen unterscheidet. Und so verlangten sie selbst von der Leidenschaft auf der Bühne, dass sie gut rede, und liessen die Unnatürlichkeit des dramatischen Verses mit Wonne über sich ergehen: − in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg! so stumm und verlegen! Oder wenn sie Worte findet, so verwirrt und unvernünftig und sich selber zur Scham! Nun haben wir uns Alle, Dank den Griechen, an diese Unnatur auf der Bühne gewöhnt, wie wir jene andere Unnatur, die singende Leidenschaft ertragen und gerne ertragen, Dank den Italiänern. − Es ist uns ein Bedürfniss geworden, welches wir aus der Wirklichkeit nicht befriedigen können: Menschen in den schwersten Lagen gut und ausführlich reden zu hören: es entzückt uns jetzt, wenn der tragische Held da noch Worte, Gründe, beredte Gebärden und im Ganzen eine helle Geistigkeit findet, wo das Leben sich den Abgründen nähert, und der wirkliche Mensch meistens den Kopf und gewiss die schöne Sprache verliert. Diese Art Abweichung von der Natur ist vielleicht die angenehmste Mahlzeit für den Stolz des Menschen; ihretwegen überhaupt liebt er die Kunst, als den Ausdruck einer hohen, heldenhaften Unnatürlichkeit und Convention. Man macht mit Recht dem dramatischen Dichter einen Vorwurf daraus, wenn er nicht Alles in 79.
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Vernunft und Wort verwandelt, sondern immer einen Rest Schweigen in der Hand zurückbehält: − so wie man mit dem Musiker der Oper unzufrieden ist, der für den höchsten Affect nicht eine Melodie, sondern nur ein affectvolles “natürliches” Stammeln und Schreien zu finden weiss. Hier soll eben der Natur widersprochen werden! Hier soll eben der gemeine Reiz der Illusion einem höheren Reize weichen! Die Griechen gehen auf diesem Wege weit, weit − zum Erschrecken weit! Wie sie die Bühne so schmal wie möglich bilden und alle Wirkung durch tiefe Hintergründe sich verbieten, wie sie dem Schauspieler das Mienenspiel und die leichte Bewegung unmöglich machen und ihn in einen feierlichen, steifen, maskenhaften Popanz verwandeln, so haben sie auch der Leidenschaft selber den tiefen Hintergrund genommen und ihr ein Gesetz der schönen Rede dictirt, ja sie haben überhaupt Alles gethan, um der elementaren Wirkung furcht− und mitleiderweckender Bilder entgegenzuwirken: sie wollten eben nicht Furcht und Mitleid, −
Aristoteles in Ehren und höchsten Ehren! aber er traf sicherlich nicht den Nagel, geschweige den Kopf des Nagels, als er vom letzten Zweck der griechischen Tragödie sprach! Man sehe sich doch die griechischen Dichter der Tragödie darauf hin an, was am Meisten ihren Fleiss, ihre Erfindsamkeit, ihren Wetteifer erregt hat, − gewiss nicht die Absicht auf Ueberwältigung der Zuschauer durch Affecte! Der Athener gieng in’s Theater, um schöne Reden zu hören! Und um schöne Reden war es dem Sophokles zu thun! − man vergebe mir diese Ketzerei! − Sehr verschieden steht es mit der ernsten Oper: alle ihre Meister lassen es sich angelegen sein, zu verhüten, dass man ihre Personen verstehe. Ein gelegentlich aufgerafftes Wort mag dem unaufmerksamen Zuhörer zu Hülfe kommen: im Ganzen muss die Situation sich selber erklären, − es liegt Nichts an den Reden! − so denken sie Alle und so haben sie Alle mit den Worten ihre Possen getrieben. Vielleicht hat es ihnen nur an Muth gefehlt, um ihre letzte Geringschätzung des Wortes ganz auszudrücken: ein wenig Frechheit mehr bei Rossini und er hätte durchweg la−la−la−la singen lassen − und es wäre Vernunft dabei gewesen! Es soll den Personen der Oper eben nicht “auf’s Wort” geglaubt werden, sondern auf den Ton! Das ist der Unterschied, das ist die schöne Unnatürlichkeit, derentwegen man in die Oper geht! Selbst das recitativo secco will nicht eigentlich als Wort und Text angehört sein: diese Art von Halbmusik soll vielmehr dem musicalischen Ohre zunächst eine kleine Ruhe geben (die Ruhe von der Melodie, als dem sublimsten und desshalb auch anstrengendsten Genusse dieser Kunst) −, aber sehr bald etwas Anderes: nämlich eine wachsende Ungeduld, ein wachsendes Widerstreben, eine neue Begierde nach ganzer Musik, nach Melodie. − Wie verhält es sich, von diesem Gesichtspuncte aus gesehen, mit der Kunst Richard Wagner’s? Vielleicht anders? Oft wollte es mir scheinen, als ob man Wort und Musik seiner Schöpfungen vor der Aufführung auswendig gelernt haben müßte: denn ohne diess − so schien es mir − höre man weder die Worte noch selber die Musik.
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Griechischer Geschmack. − “Was ist Schönes daran? − sagte jener Feldmesser nach einer Aufführung der Iphigenie − es wird Nichts darin bewiesen!” Sollten die Griechen so fern 81.
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von diesem Geschmacke gewesen sein? Bei Sophokles wenigstens wird “Alles bewiesen”.
82.
Der esprit ungriechisch. − Die Griechen sind in allem ihrem Denken unbeschreiblich logisch und schlicht; sie sind dessen, wenigstens für ihre lange gute Zeit, nicht überdrüssig geworden, wie die Franzosen es so häufig werden: welche gar zu gerne einen kleinen Sprung in’s Gegentheil machen und den Geist der Logik eigentlich nur vertragen, wenn er durch eine Menge solcher kleiner Sprünge in’s Gegentheil seine gesellige Artigkeit, seine gesellige Selbstverleugnung verräth. Logik erscheint ihnen als nothwendig, wie Brod und Wasser, aber auch gleich diesen als eine Art Gefangenenkost, sobald sie rein und allein genossen werden sollen. In der guten Gesellschaft muss man niemals vollständig und allein Recht haben wollen, wie es alle reine Logik will: daher die kleine Dosis Unvernunft in allem französischen esprit. − Der gesellige Sinn der Griechen war bei Weitem weniger entwickelt, als der der Franzosen es ist und war: daher so wenig esprit bei ihren geistreichsten Männern, daher so wenig Witz selbst bei ihren Witzbolden, daher − ach!
Man wird mir schon diese meine Sätze nicht glauben, und wie viele der Art habe ich noch auf der Seele! − Est res magna tacere − sagt Martial mit allen Geschwätzigen.
83.
Uebersetzungen. − Man kann den Grad des historischen Sinnes, welchen eine Zeit besitzt, daran abschätzen, wie diese Zeit Uebersetzungen macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht. Die Franzosen Corneille’s, und auch noch die der Revolution, bemächtigten sich des römischen Alterthums in einer Weise, zu der wir nicht den Muth mehr hätten − Dank unserem höheren historischen Sinne. Und das römische Alterthum selbst: wie gewaltsam und naiv zugleich legte es seine Hand auf alles Gute und Hohe des griechischen älteren Alterthums! Wie übersetzten sie in die römische Gegenwart hinein! Wie verwischten sie absichtlich und unbekümmert den Flügelstaub des Schmetterlings Augenblick! So übersetzte Horaz hier und da den Alcäus oder den Archilochus, so Properz den Callimachus und Philetas (Dichter gleichen Ranges mit Theokrit, wenn wir urtheilen dürfen): was lag ihnen daran, dass der eigentliche Schöpfer Diess und Jenes erlebt und die Zeichen davon in sein Gedicht hineingeschrieben hatte! −
als Dichter waren sie dem antiquarischen Spürgeiste, der dem historischen Sinne voranläuft, abhold, als Dichter liessen sie diese ganz persönlichen Dinge und Namen und Alles, was einer Stadt, einer Küste, einem Jahrhundert als seine Tracht und Maske zu eigen war, nicht gelten, sondern stellten flugs das Gegenwärtige und das Römische an seine Stelle.
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